Illusion Ortsumfahrung zerstäubt vielerorts: Jetzt mit Alternativen in die Offensive!

Rund 750 Ortsumfahrungen aus dem Bundesverkehrswegeplan 2003 (BVWP) sind noch nicht realisiert und es werden aufgrund fehlender Finanzen in Zukunft nur noch wenige begonnen werden können (siehe Beitrag zum Investitionsrahmenplan). Die Illusionen  des  vielerorts Versprochenen brechen nach und nach zusammen – ein Umsteuern ist längst überfällig.

Ortsumfahrungen werden hauptsächlich gefordert, weil sie Ortsdurchfahrten von Verkehr entlasten und damit den Anwohnern geringeren Lärm, weniger Abgase und weniger Unfallgefährdungen bringen sollen.  Doch werden diese Ziele erreicht?

Kaum Entlastung

Schaut man sich das Planungsziel “Entlastung von Ortsdurchfahrten“ bei der Bewertung von Neubau-Projekten von Bundesstraßen für den gültigen BVWP 2003 an, so entlastet jede zweite Ortsumfahrung kaum.  Nach amtlichen Angaben des Bundesverkehrsministerium war die Entlastungswirkung bei fast 60% der über 1.400 Ortsumfahrungen  „nicht nennenswert“ oder nur „gering“. Nur für 5 Prozent der Umfahrungen ergab die Bewertung eine „sehr hohe oder herausragende Bedeutung“ für die Entlastung.[1] Die meisten der geplanten Ortsumfahrungen entlasten nicht, weil zu viel Binnen-, Ziel- und Quellverkehr im Ort verbleibt. Da die Planung und Realisierung von Umfahrungen zudem sehr lange dauert, sind innerörtliche Maßnahmen zur Entlastung sehr viel schneller umgesetzt, wie z.B. Lkw-Nachtfahrverbote oder Tempo 30 – beides ist auf Bundesstraßen möglich, wie Beispiele zeigen.
Unfallbilanz hängt sehr vom Einzelfall ab und ist teilweise sogar negativ

Ortsumfahrungen, die die Unfallhäufigkeit stark mindern, gibt es tatsächlich. In anderen Fällen fällt der Rückgang der Unfallzahlen nur sehr gering aus, in manchen Fällen ist die Gesamtbilanz der Unfälle in und außerhalb des Ortes sogar negativ und es kommt zu deutlich schwereren Unfällen aufgrund der höheren Geschwindigkeit auf der Umfahrung. (Dabei  werden Durchfahrt und die Umfahrung zusammen gegenüber der Durchfahrt vorher verglichen.) Eine neue, 2011 erschienene Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BaSt), kommt anhand von 21 Beispielen zu folgendem Ergebnis: Bei 12 der untersuchten OUs war die Anzahl der Unfälle rückläufig. Aufgrund der größeren Unfallschwere im Außerortsbereich gibt es aber insgesamt nur eine geringe Verbesserung der Sicherheit im Nachher-Zeitraum: Nur 9 der 21 Beispiele weisen niedrigere Unfallkosten auf. Über alle Beispiele gerechnet gingen die Unfallkosten um nur 4% zurück.  (Anm.: Der Vergleich wurde über Unfallkosten hergestellt, da darin die Schwere von Personenschäden in die Rechnung mit eingeht).[2]

Umfahrungen erzeugen insgesamt neuen Autoverkehr

Neubauten von Bundesstraßen bedingen durch ihre flüssigere Linienführungen im Vergleich zu den parallel verlaufenden Ortsdurchfahrten ein schnelleres Vorankommen des Autoverkehrs. Oftmals ergeben mehrere Ortsumfahrungen hintereinander eine autobahnähnliche Schnellstraße. Dadurch werden tendenziell bestimmte Ziele öfter mit dem Auto angesteuert („das geht ja jetzt so schnell“) und im Wettbewerb zu öffentlichen Verkehrsmitteln fallen diese zurück und es werden Verkehre auf das Auto verlagert.  Insgesamt nimmt damit der Autoverkehr durch den Neubau von Umfahrungen zu.  Man spricht von induziertem Verkehr.[3]

Neue Naturvernichtung

Mit dem Bau neuer Straßen ist immer die Vernichtung von Landschaft verbunden – mal weniger, mal mehr. Oft setzen sich bei der Planung siedlungsferne Trassen durch, die dann aber geschützte Naturräume beeinträchtigen. Tendenziell kann gesagt werden, dass je weiter die Umfahrung vom Ort entfernt ist, die Entlastung geringer, doch liegt sie näher am Ort, werden wieder neue Betroffene am Ortsrand durch Lärm, Abgase und Unfallgefährdung geschaffen. Generell trennt eine Ortsumfahrung den Ort von ihren Naherholungsgebieten.

Fazit: Ortsumfahrungen halten oftmals nicht das, was sich von ihnen versprochen wird und sie zementieren insgesamt die Vorherrschaft des Autos. Sie blockieren den Weg hin zu einer solidarischen Mobilität, wie sie die LINKE für notwendig hält.
 
CHECKLISTE
Der Planung einer Ortsumfahrung kann man nur zustimmen, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
  • die Verkehrsbelastung liegt über 10.000 Kfz/Tag
  • der Verkehr nimmt durch die Umfahrung innerorts um mindestens die Hälfte ab und der Lärmpegel sinkt unter 60 dB(A)
  • andere Maßnahmen der Verkehrs-Vermeidung, -Verlagerung oder -Beruhigung (z.B. Lkw-Nachtfahrverbot, Tempo 30 u. ä.) wirken nachweislich nicht entlastend
  • die alte Ortsdurchfahrt wird rückgebaut oder verkehrsberuhigt
  • eine umweltverträgliche Trasse wird gefunden und der Landschaftsverbrauch wird anderweitig ausgeglichen
  • die Umfahrung wird nicht zur Schnellstraße ausgebaut, so dass sie keinen zusätzlichen Autoverkehr erzeugt
  • die Umfahrung ist in ein Konzept zur Förderung umweltfreundlicher Mobilität eingebettet
 

Alternativen zu Straßen-Neubau können innerstädtische Umfahrungen sein:  Das Wittstocker Modell

Sollte nach der Checkliste eine Entlastung der Ortsdurchfahrt nötig sein, so gibt es eventuell auch die Möglichkeit einer innerörtlichen Lösung. Statt das Warten auf eine „große Lösung“ (=Neubau) unendlich fortzusetzen, orientierte sich die Stadt Wittstock/Dosse 2002 um. Geplant war nach BVWP 2003 eine Ortsumfahrung im Zuge der Verlängerung der B 189 von Pritzwalk über Wittstock nach Mirow. Diese 6 km Bundesstraße mit Kosten in Höhe von 8,3 Mio. € war im vordringlichen Bedarf eingestellt. In Wittstock trafen sich zwei Landesstraßen, die mitten durch die Altstadt führten. Gleichzeitig führten im Süden Gemeindestraßen an der Stadt teilweise quasi vorbei, die als ortsnahe Umfahrungsstraße genutzt werden konnten. Die Landesstraßen wurden zunächst in Gemeindestraßen und umgekehrt umgewidmet und dadurch die Voraussetzung für das Finanzierungsmodell geschaffen. Zwischen Land (in diesem Fall Brandenburg) und Kommune wird je nach Zustand der jeweiligen Straßen ein finanzieller Ausgleich – der sogen. „Einstand“ – gezahlt. Diese Mittel  werden als Kommunaler Mitleistungsanteil (KMA) für verkehrliche und städtebauliche Investitionsmaßnahmen, die mit Landesmitteln gefördert werden, eingesetzt. Da der KMA im Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ 20 % beträgt, wird durch diesen Mitteleinsatz der Kommune das Vierfache an Landesförderung „aktiviert“. Durch dieses Verfahren können also Hoch- und Tiefbauprojekte finanziert werden, die sonst am fehlenden Kommunalanteil scheitern würden. In Wittstock wurde damit bis 2004 eine Entlastung des historischen Ortskerns erreicht– bei nur 800 m Straßen-Neubau und sonstiger Nutzung des vorhandenen Netzes.[4] Diese Alternative mit weitgehend Ausbau statt Neubau war wesentlich naturverträglicher und auch billiger als die große Lösung bei verkehrlich gleichwertiger Funktion.

Auch in Aachen wurde durch die Umwidmung eines 6 km langen Teilstückes der L 133 zur B 258 im Jahre 2010 zwei Ortsumfahrungsprojekte des BVWP überflüssig. Zwei Projekte, die  mit großen Eingriffen in die Natur verbunden gewesen wären  und mindestens 16,7 Mio. € gekostet hätten.[5]
 

Die Bundes-Planungen von Ortsumfahrungen führten bisher zu Denkverboten auf kommunaler und regionaler Ebene. Durch die fehlenden Finanzmitteln besteht nun die Chance, umzuschalten: In Zukunft müssen z.B. Lösungen im Bestand einfacher durch Fördermittel bezuschusst werden können. Noch besser wäre eine grundlegende Änderung der BVWP, dahingehend dass Ortsumfahrungen entweder weitgehend vom Bund auf die Länder verlagert werden, oder dass auf Bundesebene keine konkrete Lösung mehr vorgegeben wird, so dass mit den vom Bund bereit gestellten Mitteln in der Region die beste , also Menschen- wie naturverträglichste Lösung – gefunden werden kann.

Außerdem müssen Maßnahmen des Rückbaus bzw. der Verkehrsberuhigung fester Bestandteil von Planungen zur Entlastung von Ortsdurchfahrten sein, also Teil des Planfeststellungsbeschlusses werden. Regionale Verkehrsentwicklungskonzepte unter Einbeziehung auch des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs sowie des Fuß- und Radverkehrs können kostengünstig und schneller eine bessere Verkehrsabwicklung erreichen als das Starren auf die Planung und das Geld aus Berlin vom Bund.
 





[1] Alternativen zu Ortsumfahrungen und städtischen Straßenprojekten, BUND Berlin, 2011;  Spatenstich für Ortskernentlastung, Pressemitteilung des Ministeriums für Infrastruktur und Landwirtschaft Brandenburg v. 19. 11. 2003.
 
[2] BT-Drs. 17/7071

[3] BUND-Schwarzbuch zum Fernstraßenbau in Deutschland, 2004
 
[4] Bewertung von Ortsumgehungen aus Sicht der Verkehrssicherheit, bast-Bericht V 203, 2011

[5] BUND-Werkzeug: Ortsumfahrungen  Entlastungswirkungen und Alternativen des BUND,  2004

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