Verkehrswende in Hessen verschoben
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- 21 Januar 2014
- von Sabine Leidig und Karin Masche
Dieser Artikel mit einer ausführlichen Synopse des hessischen Koalitionsvertrages 2013 (CDU/Grüne) mit dem Wahlprogramm von Bündnis‘90/Die Grünen und dem Entwurf des hessischen Koalitionsvertrages von 2008 (SPD/Grüne) (37 S., 368kB)
„Die Energiewende sowie der Erhalt unserer Umwelt und lebenswerter Räume kann nur mit einer Verkehrswende gelingen“ so formulierten die Hessischen GRÜNEN in ihrem Wahlprogramm zur Landtagswahl ihren eigenen Anspruch. Auf welche Eckpunkte für eine Verkehrswende haben sie sich nun geeinigt, die ihr Verkehrsminister Tarek Al Wazir nun umsetzen will?Das Wort „Verkehrswende“ kommt im Koalitionsvertrag gar nicht mehr vor. Nicht in Sicht ist eine Minderung des Fluglärms am Frankfurter Flughafen. Eine Deckelung der Flugbewegungen gibt es nicht, aus einem absoluten Nachtflugverbot von 22:00 bis 6:00 Uhr wurden schwammig formulierte siebenstündige „Lärmpausen“, aus dem „Verzicht auf den Bau des Terminal 3“ wurde „eine Bedarfsprüfung des Bauvorhabens“. Die vorbereitenden Bauarbeiten am Terminal 3 sind bereits auf vollen Touren.
Die Schließung der Nord-West Landebahn, wie sie Lärmbetroffene und die Bürgerinitiativen fordern tauchte erst gar nicht im Wahlprogramm auf, dort steht: „Der Bau der Nordwestbahn war, ist und bleibt ein schwerwiegender Fehler, den CDU, SPD und FDP gemeinsam begangen haben. Diesen Fehler und damit die Nordwestbahn können wir nicht einfach wieder ungeschehen machen.“
War 2008 in dem ausgearbeiteten Koalitionsvertrag SPD/GRÜN noch von der Bildung eines Flughafensystems aus Frankfurt (FRA) mit den Flughäfen Hahn (HHN) und Köln/Bonn (CGN) zur unternehmerischen Kooperation statt Expansion von FRA die Rede, so fiel den Grünen im Wahlprogramm 2013 nur die Privatisierung des Flughafens Hahn ein. Der unnütze inzwischen errichtete Flughafen Kassel Calden von dem meist nur Taxis zu den nahen Regionalflughäfen Paderborn und Erfurt verkehren, soll mit Landesmitteln weiterbetrieben werden, obwohl die inzwischen in Verfassungsrang erhobene „Schuldenbremse“ das Defizit durch Schließung herunterfahren würde. Auch hier zeigt sich: die „Schuldenbremse“ ist eigentlich nur ein Tarnbegriff für Sozialabbau, geschlossen werden mit Hinweis auf Schuldenbremse und Rettungsschirm Schwimmbäder und Bibliotheken aber keine Landebahnen und defizitären Flughäfen.
Auch die beiden großen Autobahnneubauten A44 von Kassel nach Eisenach und A49 durch die Schwalm fallen keinen Sparmaßnahmen und keiner Schuldenbremse anheim. „Wir halten Bauprojekte wie die A44, die A49 und die B87n weiterhin für falsch“ formulieren die Grünen noch im Sommer 2013 in ihr Wahlprogramm. Allerdings waren sie schon 2008 bereit den Bau von A44 und A 49 mitzutragen, den die starke nordhessische SPD forderte. Interessant sind hier exakte Formulierungsübereinstimmungen: die Passage „Es ist darauf zu achten, dass kein zusätzlicher Verkehr in die Ortslagen gelenkt wird, sondern dass diese auch in der Realisierungsphase abschnittsweise vom Durchgangsverkehr entlastet werden“ ist 1 zu 1 vom Koalitionsvertrag Grün/SPD in den Koalitionsvertrag GRÜN/CDU übernommen. Das grüne Bändchen der Sympathie: Ortsumgehungen.
Immer noch taucht im Koalitionsvertrag der längst gestrichene Neubau „Olpe-Hattenbach“ (A 4) auf. Abgehandelt hat die CDU den Grünen hier Ortsumgehungen in diesem Bereich. Ansonsten sollen die angemeldeten Projekte im Bundesverkehrswegeplan anhand eines Kriterienkatalogs überprüft werden. Als Kriterien werden genannt: „verkehrliche Nutzen, die Zustimmung der betroffenen Kommunen, der Planungs- und Genehmigungsfortschritt, die Finanzierbarkeit sowie die zeitnahe Realisierbarkeit“. Ökologische Kriterien und solche, die auf eine „Verkehrswende“ hindeuten“ – Fehlanzeige.
Der im aktuellen Koalitionsvertrag nicht erwähnte Bau der B87n quer durch das UNESCO Biosphärenreservat Rhön mag einem breiten Widerstand geschuldet sein, aber in den 20 Jahren der Planung wurden von CDU und FDP Ministern schon Tatsachen mit überdimensionierten Ortsumgehungen auf Parallelstrecken bei Dipperz und Wickers geschaffen. Was nötig ist, ist ein alternatives Verkehrskonzept der sanften Erschließung des Biosphärenreservates.
Im Abschnitt „Tourismus: Hessens Vielfalt erleben“ wird zwar vom Urlaub in Hessen geschwärmt: „Tagesausflüge, Kurzurlaube sowie längere Kur- und Urlaubsaufenthalte“, „Entwicklungspotenzial insbesondere für den nachhaltigen Tourismus, beispielsweise dem Rad- und Wandertourismus und dem Urlaub auf dem Bauernhof“. Doch ein Konzept, wie diese Ziele im ländlichen Raum erreicht werden können wird nicht entwickelt.
„Autos sind vielfach für die Mobilität unverzichtbar“ – Dies ist nicht ein Satz, auf den etwa die CDU im Koalitionsvertrag bestanden hat. Nein, es ist eine Formulierung der Grünen bereits aus dem Wahlprogramm, die den Abschnitt Carsharing einleitet. “Den Mobilitätsbedarf des ländlichen Raumes zu decken, ist aufgrund der niedrigeren Passagierzahlen und der im Vergleich zum städtischen Ballungsraum größeren Strecken eine besondere Herausforderung. Deshalb werden wir Initiativen zur Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs auf dem Land (Mitfahr- und Carsharing-Zentralen sowie Park-and-Ride-Systeme, Ausbau differenzierter Bussysteme wie Anrufsammeltaxen, Bürger-, Nacht- und Regiobusse) unterstützen.“ Diese Behelfskrücken deuten eher darauf hin, dass bestehender Linienverkehr des ÖPNV abgebaut werden soll.
E- Mobilität soll gefördert und ein Stromtankstellennetz aufgebaut werden. Ob dieser Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen wird oder aus CO2 Dreckschleudern - das wird nicht thematisiert. Auf jeden Fall halten die Koalitionäre den Emissionshandel mit Verschmutzungsrechten für „ein sinnvolles Instrument der EU-Klimapolitik“. Ansonsten setzen sie auf die Einrichtung von Umweltzonen, die Aufstellung von Pförtnerampeln, LKW-Durchfahrverbote, verkehrssensitive Ampelschaltungen. Mit Tempolimit innerörtlich 30 h/km und 120 h/km auf Autobahnen konnten sich die Grünen nicht durchsetzen. Durchgesetzt hat sich eine PKW freundliche Politik, die den Verkehrsfluss mit Investitionen in Lichtanlagentechnik beschleunigt und freie Raserfahrt in Hessen ermöglicht.
Leider sind die im Landeswahlprogramm geforderten konkreten Ausbaupläne für ein landesweites Radverkehrsnetz im Koalitionsvertrag nicht mehr enthalten. Auch die Erhöhung des Radverkehrsanteiles bis 2020 auf mindestens 15% der zurückgelegten Wege ist nicht enthalten, „bis 2020 deutlich erhöhen“ ist die Formulierung.
Das Wahlprogramm formuliert „Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist Bestandteil der Daseinsvorsorge.“ Die Daseinsvorsorge wird im Koalitionsvertrag zwar bezüglich Breitbandausbau gesehen, aber nicht für den Bereich ÖPNV.
Im Koalitionsvertrag wird bezüglich ÖPNV festgeschrieben, dass sich das Land für eine „angemessene Finanzierung durch Bundesmittel auch über das Jahr 2019 hinaus einsetzt“, sie will aber „prüfen“ ob „der Unterfinanzierung des ÖPNV mit einer Kofinanzierung des Landes entgegenwirkt werden kann“. Mit dem Argument „Schuldenbremse“ kann dies abgebügelt werden.
Weiterhin werden „Effizienzgewinne“ bei den Verbünden gesehen, was auf Fahrpreissteigerungen, Personaleinsparungen ua. hindeutet.
In dem Koalitionsentwurf SPD/Grün aus 2008 werden für den Bereich ÖPNV zahlreiche Punkte konkret benannt: Tarifbindung, kostengünstige Schülertickets, Pünktlichkeitsgarantie, Modellregion für nachhaltige Mobilität, Fahrgastrechte, Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild
Es heißt dort 2008 „Unser Ziel ist der Ausbau des Angebots an Bussen und Bahnen sowohl in den Ballungsräumen als auch in der Fläche, um auf diese Weise allen Menschen eine bequeme, umweltverträgliche und kostengünstige Mobilität zu ermöglichen.“
Der Koalitionäre wollen mitwirken bei Planungen nordmainischen Strecke Frankfurt/Main-Maintal-Hanau, S-Bahn Rhein-Main, viergleisiger Ausbau Frankfurt (West)-Bad Vilbel-Friedberg, Regionaltangente West allerdings ohne Finanzbeteiligung.
Unscheinbar daher kommt der S-Bahn Anschluss „Gateway Gardens“, einem Bürostadtteil mit einem Investitionsvolumen von 1,7 Milliarden Euro, der am Flughafen neu entsteht. Für die Umlegung dieser Strecke wird das gesamte Frankfurter Kreuz und die A5 untertunnelt. Die Kosten betragen derzeit 215 Millionen Euro, davon entfallen auf das Land 22 Mio, auf den Bund 111 Millionen Euro und das schwarz/grün regierte Frankfurt will 84,5 Millionen Euro übernehmen. Erschlossen wird das Gebiet als PPP Projekt bei dem neben Fraport die OFB als Projektentwickler auftritt. Geschäftsführer der OFB ist der ehemalige hessische Verkehrsminister Alois Rhiel (CDU).
Wurden im Koalitionsvertrag 2008 noch zahlreiche Bahnstrecken zur Reaktivierung benannt (Aartalbahn, Lumdatalbahn, Überwaldbahn, Weschnitzbahn), konnte man sich jetzt lediglich auf Fortsetzung der Arbeiten für eine Reaktivierung der Strecke Korbach – Frankenberg einigen. „Bei vorliegendem Bedarf unter Nutzen-Kosten-Aspekten sollen Initiativen zur Reaktivierung von Bahnstrecken unterstützt werden“, heißt es lapidar – Verkehrswende sieht anders aus.
Bei Fernstrecken werden die Die ICE-Schnellfahrstrecke Frankfurt - Mannheim mit einem ICE-Halt in Darmstadt und die Ausbau- und Neubaustrecke Frankfurt-Fulda genannt.
Auch hier liegt die Brisanz im Detail: es ist nicht von vierspurigem Ausbau der hochfrequentierten Strecke die Rede sondern von Ausbau- und Neubaustrecke. Gemeint ist hier wahrscheinlich eine Neubaustrecke quer durch das Naturschutzgebiet Spessart, die sogenannte Mottgers Spange. Tunnel soll sich hier an Tunnel reihen, dazwischen Talbrücken. Kein Wunder, dass es sich hier um das zweitteuerste Projekt nach Stuttgart21 handelt. Die Neubaustrecke soll dann bei Mottgers auf die ICE Schnellfahrstrecke Würzburg-Fulda treffen. Vorteile ergeben sich aus den Investitionskosten keine, ja es wird dadurch sogar ein Umweg Richtung Fulda in Kauf genommen.
Auch ein pikantes Detail: Unter der Überschrift „Naturschutzprojekte“ benennt der Koalitionsvertrag den Nationalpark Kellerwald- Edersee, das Biosphärenreservat Rhön, den Naturpark Hoher Vogelsberg, Geoparks Odenwald-Bergstraße, Westerwald-Lahn-Taunus und die Grenzwelten in Waldeck-Frankenberg und die Möglichkeit über ein Biosphärengebiet Rheingau-Taunus/ Wiesbaden/ Mainspitze. Der Naturpark Spessart einer der größten zusammenhängenden Waldgebiete Europas wird gar nicht erwähnt. Auf hessischer Seite ist der Gutsbezirk Spessart ein gemeindefreies Gebiet und nach der hessischen Gemeindeordnung der zuständige staatliche Forstbeamte Gutsvorsteher. Es gibt also keine kommunale Instanz, die sich gegen eine solches Großprojekt wie eine ICE Trasse durch den Naturpark wehren könnte.
Alle die vorgestellten Verkehrsarten (es fehlen in der Betrachtung noch Fußverkehr, Wasserwege, Güterverkehr und der Bereich Straßen und Schienenlärm) sowie die fehlenden Perspektiven in der Städte- und Raumplanung zeigen keine Anzeichen von einem ernsthaften Willen an einer „Verkehrswende“. Vielleicht ist es dann auch konsequent, dass der Begriff im Koalitionsvertrag gar nicht mehr auftaucht.
Einer der wichtigsten Grundlagen für eine Verkehrswende in Hessen scheint mir das Erbe von Hermann Scheer wieder aufzugreifen, der im Schattenkabinett Andrea Ypsilantis als designierter Wirtschafts- und Umweltminister vorgesehen war und somit die landesplanerischen Kompetenzen für die Umsetzung der vorgesehenen „Energiewende“ erhalten sollte.
Er brachte in den Koalitionsvertragsentwurf von 2008 folgende Passage ein:
„Zur Sicherung der Arbeitsplätze am Standort sowie mit der Zielperspektive ihrer Vermehrung sollen den dort angesiedelten Unternehmen für die Zukunft im Rahmen der Aufgabendefinition des Luftlandeplatzes nachhaltige Entwicklungsmöglichkeiten geboten werden. Darüber hinaus haben wir als zusätzliche Innovation die Absicht, ein Forschungs- und Entwicklungsinstitut für klimaneutrale Flugantriebstechniken in Kooperation mit der Universität Kassel in Kassel-Calden einzurichten."
Die Landesregierung wird das geplante ‚House of Logistics und Mobility“ zu einem „Innovationszentrum für nachhaltige Mobilität und Logistik“ weiterentwickeln, das in erster Linie der nachhaltigen Verkehrsentwicklung dienen soll. Dabei werden integrierte Mobilitätskonzepte sowie die Förderung des Umweltverbundes besonders berücksichtigt.
Statt eines unnötigen Flughafens hatte Scheer Visionen für eine Verkehrswende. Mit „klimaneutralen Flugantriebstechniken“, die auf dem bereits bestehenden Luftlandeplatz Kassel-Calden erforscht, entwickelt und getestet werden könnten meinte er die Transportmöglichkeit per Lastzeppelin als realistische Alternative zu LKW und Flugzeug..
Auch das “House of Logistics und Mobility” am Frankfurter Flughafen sollte Mobilitätskonzepte für eine nachhaltige Verkehrswende entwickeln. Doch dazu ist es nötig, dass nicht Fraport und die zweifelhafte European Business School Forschungsschwerpunkte bestimmen, wie es sich derzeit darstellt. Ein solches Forschungszentrum muss unter den politischen Vorgaben einer Landesregierung arbeiten und die Details für eine unabhängig von Lobbyinteressen freie Verkehrswende aufbauen, die die Politik dann umsetzt.