Papier & Wirklichkeit: Neues Verkehrs-Weißbuch und alte EU-Verkehrspolitik
- Details
- 6 Juni 2011
- von Winfried Wolf
Von vielen Betrachtern werden die Weiß- und Grünbücher der EU zum Verkehr als eine Art Gegenpol zum Maastrichter und Lissabonner Vertrag beziehungsweise zur allgemeinen neoliberalen Grundorientierung der EU (mit Liberalisierung und Privatisierung usw.) gesehen. Tatsächlich können sich Leute, die das ″Greenwashing″ der offiziellen Politik betreiben, in solchen Büchern, die im Gegensatz zu EU-Verordnungen unverbindliche Willensäußerungen sind, ohne Rücksicht darauf, später beim Wort genommen zu werden, ausbreiten.
Einordnung mit kritischen Anmerkungen von Winfried Wolf.
KOM(2011)144:"Weißbuch - Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einemwettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem " (133kB)
Als am 28. März 2011 das neue Weißbuch Verkehr der EU-Kommission in seiner endgültigen Fassung vorgestellt wurde, gab es dann auch ein weiteres Mal Reaktionen, die vieles in dem Text übersahen und zu vieles in dem Text für bare Münze nahmen. Die Europäische Verkehrs-Gewerkschaft (EVG), der Zusammenschluss der Eisenbahngewerkschaften Transnet und GDBA, findet in dem Weißbuch ″eine Reihe von guten Ansätzen, die die Schiene im intermodalen Wettbewerb stärken könnte.″ Michael Cramer, grüner Europaparlamentarier, urteilt deutlich kritischer, glaubt aber doch, dass ″die Kommission die Herausforderungen richtig benennt″. Der Deutsche Naturschutzring (DNR) erkennt in dem EU-Dokument ″Anstrengungen, Marktoptionen mit Nachhaltigkeitsanforderungen in Einklang zu bringen.″
Besonders auffallend ist: Das Weißbuch wird – nicht zuletzt vom Verkehrskommissar Siim Kallas selbst – mit dem Duktus ″Hoppla, jetzt kommen wir...″ vorgestellt. Das mag auch daran liegen, dass das letzte Verkehrs-Weißbuch, das 2000/2001 unter der damaligen Kommissarin Loyola de Palacio erarbeitet wurde, vor ziemlich genau einem Jahrzehnt vorgestellt wurde. Daher wird leicht vergessen, welche Art Kontinuität es bei der widersprüchlichen Einheit von Weißbüchern und Grünbüchern einerseits und realer Verkehrspolitik und -entwicklung andererseits gibt. Die bereits zitierte Gewerkschaft EVG beispielsweise konstatiert: ″Die Ziele (im Weißbuch; W.W.) sind nicht neu. Gut aber ist, dass sie auf höchster EU-Ebene nun als offizielle Ziele definiert werden.″ Die EVG hat sogar im Weißbuch eine Passage entdeckt, wonach ″die EU anstrebt, einen Großteil des Güterverkehrs auf die Schiene zu verlagern″. In Wirklichkeit wurden auf dieser ″höchsten EU-Ebene″ bereits mehrfach vergleichbare Ziele proklamiert. Allerdings wurde weder in vorausgegangene Weißbüchern eine derart drastische Verlagerung auf die Schiene projektiert, noch findet sich Vergleichbares im neuen Weißbuch. Dazu kommen wir noch.
Um nicht immer erneut Momentaufnahmen des jeweils neuen Weiß- und Grünbuchs vorzunehmen – und durch diese Art Momentaufnahmen den Blick für das Ganze zu verlieren – macht die Einordnung des jüngsten Weißbuchs in vorausgegangene EU-Dokumente Sinn.
Bisherige EU-Dokumente.
Oder: fünf falsche Glaubenssätze
Das erste Grünbuch der EU-Kommission zum Thema Verkehr aus dem Jahr 1992 verwendete erstmals den Begriff der Notwendigkeit einer ”nachhaltigen Mobilität”. Dort ist sogar von der notwendigen Vermeidung ”unnötigen Transports” die Rede. Der Text forderte eine Wettbewerbs- und Marktordnungspolitik, die die Verzerrungen zu Lasten der umweltfreundlichen Verkehrsträger beseitigt.
Das im selben Jahr, Ende 1992, vorgelegte Weißbuch ”Zur künftigen Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik” wurde, war bereits deutlich stärker vom Liberalisierungsgedanken der vorherrschenden EG-Politik bestimmt. Der Verkehrswissenschaftler Christian Hey konstatierte, dass dieser politisch-programmatische Text ”bemerkenswert (ist), weil (er) zum ersten Mal ausführlich die Umweltdimension in die verkehrspolitische Strategie der EG aufnahm”, was wiederum nur zu verstehen sei, weil das Weißbuch ”zu einem Zeitpunkt entstand, als die Umweltfolgen des Verkehrs intensiv in verschiedenen europäischen und internationalen Foren diskutiert wurden”.(1) Gefordert wurde EU-weit eine ″Stabilisierung der CO-2-Emissionen″, wozu ″auch der Verkehr seinen Beitrag″ leisten müsse. Es findet sich in diesem Text sogar eine Passage, in der argumentiert wird, dass selbst eine Halbierung des spezifischen Energieverbrauchs von Fahrzeugen keinen hinreichenden Beitrag zur Stabilisierung der CO-2-Emissionen darstellen würde.
Doch in diesem Weißbuch gab es bereits einen ersten falschen Glaubenssatz, der sich bis heute wiederholt. Unterstellt wurde ein vorgegebenen Verkehrswachstum, das als logisches Resultat des allgemeinen Wirtschaftswachstums gesehen wird. Daran schloss sich gleich der zweite falsche Glaubenssatz an: Argumentiert wird, es läge eine ”Ineffizienz” der bestehenden Infrastruktur und die Gefahr vor, dass diese Infrastruktur in Bälde ”überlastet” sein würde. Die Umweltbelastungen, die der Verkehr verursacht, werden teilweise als Resultat von ″Ineffizienz und Überlastung″ gesehen. Im Umkehrschluss heißt dies, es sei die Aufgabe zukunftsweisender Politik, für eine ”effiziente” Verkehrsinfrastruktur zu sorgen.(2)
Im Dezember 1995 wurde das Grünbuch über ”faire und effiziente Preise im Transport” vorgelegt. Das Versprechen, das im Untertitel dieses Dokuments mit den Worten ”Policy Options for Internalising the External Cost of Transport in the European Union - Politische Optionen zur Integration der ” aufscheint, wurde in Wirklichkeit nicht erfüllt. Das Grünbuch kennt, so Christian Hey, ”im Grunde nur Gewinner”.(3) Das wiederum definiere ich als den dritten falschen Glaubenssatz, der da lautet: Von einer ″richtigen Verkehrspolitik″ profitieren alle″. Dies soll - so bereits die Verfasser dieses Weißbuchs - insbesondere für das zentrale Thema des Textes, die ”externen Kosten” und ihre Internalisierung, gelten. Erstmals heißt es explizit, dass es bei der Debatte um externe Kosten nicht um eine Verteuerung der Transportkosten, sondern um deren ”Differenzierung” gehen würde.
Ende 2001 wurde unter dem Titel ”Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft” dann das derzeit vorletzte Weißbuch zur EU-Verkehrspolitik präsentiert.(4) Ein Ausgangspunkte der EU-Verkehrspolitik ist in diesem Weißbuch der folgende: Im Mittelpunkt steht das Individuum, gewissermaßen der homo mobilis, dem ein ”Grundrecht auf Mobilität” zuzugestehen sei. Mobilität und ”ihr Anstieg” würden von den EU-Bürgern ”als Besitzstand angesehen und sogar als Recht beansprucht”. Unternehmer und Individuen werden gleichgesetzt, wobei unterstellt wird, dass beide ein Recht auf adäquate Nutzung des Verkehrssektors haben würden: ”Sei es der normale Bürger oder ein Verkehrsunternehmer: Jeder muss ein Verkehrssystem nutzen können, das seinen Erwartungen und Bedürfnissen gerecht wird”. An anderer Stelle ist die Rede von einem ”Kollektivgut” Nutzung der Verkehrsinfrastruktur.(5) Hier sehe ich den vierten falschen Glaubenssatz.
In diesem EU-Weißbuch wurde besonders betont, dass dieses ”Recht” am besten durch eine Ausweitung des ”Wettbewerbs”, durch eine ”Öffnung” insbesondere im Bereich des Schienenverkehrs wahrgenommen werden könnte. Das Thema ”freier Verkehrsmarkt” müsse von der EU auch auf der Ebene der Welthandelsorganisation (WTO) zum Thema gemacht werden. Mit der Aussage ″Der Markt wird es richten″ ist dann das Quintett falscher verkehrspolitischer Glaubenssätze voll.
In der Regel bleiben die Verfasser der EU-Weiß- und Grünbücher ausgesprochen schmallippig, wenn es um konkrete Angaben zur zukünftigen Verkehrsentwicklung und deren Aufteilung auf die unterschiedlichen Verkehrsträger geht. Das 2001er Weißbuch plädiert allerdings für einen sogenannten ″integrierten Ansatz″ (″Option C″), mit dem die ″Stabilisierung der Verkehrsträgeranteile auf dem Niveau von 1998″ erreicht werden müssten, um bis 2010 zu ″einer ausgewogeneren Verteilung zu gelangen.” Hier ist auch davon die Rede, bis 2010 eine ”allmähliche Entkopplung von Verkehrszunahme und Wirtschaftswachstum und ausgewogenere Verkehrsträgeranteile” zu erreichen.(6)
Das 2011er Weißbuch Verkehr
Das neue Weißbuch trägt den durchaus programmatischen Titel ″Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsoruientierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem″.(7) Erstaunlicherweise schreibt niemand, dass es sich bereits rein formal um den bisher anspruchslosesten Weißbuch-Text handelt. Während Frau Palacio für das 2001er Weißbuch 137 eher eng bedruckte Seiten benötigte, kommt Herr Kallas mit 35 locker beschriebenen Seiten aus; der eigentliche Textteil umfasst sogar nur 20 Seiten. Natürlich könnte in der Kürze einige Würze stecken – doch das ist nicht der Fall. Im 2001er Weißbuch finden sich immerhin einige Tabellen und Grafiken, die etwas mit realer Verkehrspolitik in der EU zu tun haben. Beispielsweise findet sich dort auf Seite 124 eine Grafik zur ″Länge der Autobahnen und Bahnstrecken 1985-1995″. Es dort abgebildete scherenartige Entwicklung ist beeindruckend: eine waagrechte, deutlich abfallende Linie bei der Länge des Schienennetzes und eine steil nach oben weisende Kurve bei der Länge des EU-Autobahnnetzes. Im 2001er Text werden die externen Kosten des Verkehrs wenigstens im Anhang (S. 125) grafisch dargestellt – in der gebührend krassen Form, wonach es so gut wie keine externen Kosten im Schienenverkehr gibt (keine nicht in den Preisen für Schienentransporte enthaltene Kosten), diese jedoch beim Pkw- , Lkw- und Luftverkehr gewaltig sind.
Kommissar Kallas kommt 2011 komplett ohne Tabellen und Grafiken aus. Dieser in der EU-Kommission für Verkehr verantwortliche finnische Kommissar kann sich so ganz auf das große Märchen von Markt und Konkurrenz konzentrieren und schwadronieren: ″Das künftige Wohlergehen unseres Kontinents wird davon abhängen, dass alle seine Regionen ihre umfassende und wettbewerbsorientierte Integration in die Weltwirtschaft aufrechterhalten können. Ein effizienter Verkehr ist dabei die Grundvoraussetzung.“ Richtig ist, dass je mehr die Menschen in Griechenland, Irland und Portugal derart „integriert“ wurden, desto krasser stürzten ihre Ökonomien ab.
Im übrigen bestätigt, konkretisiert und variiert Herr Kallas die genannten fünf falschen verkehrspolitischen Glaubenssätze.
Vorgegebenes Verkehrswachstum: Im EU-Weißbuch 2011 wird ein ständiges Wachstum des Verkehrs nicht nur gewissermaßen als naturbedingt unterstellt. Dort wird sogar die Aufforderung formuliert: „Verkehrswachstum gewährleisten“(S. 5) Kallas weiß: „Die weit verbreitete Annahme, dass zur Bekämpfung des Klimawandels die Mobilität eingeschränkt werden muss, ist einfach nicht wahr.“(8) Wenn in dem Dokument konkrete Zahlen genannt werden, dann geht es um rasantes Wachstum – etwas um eine Verdopplung des Flugverkehrs (dazu unten).
Die Zielsetzung, Verkehr zu vermeiden – u.a. indem Strukturen geschaffen und gestärkt werden, die dies ohne Verlust an Lebensqualität ermöglichen – gibt es im neuen Weißbuch nicht.
Ineffizientes Verkehrssystem und dessen Überlastung: Bei Kallas liest sich dieser Glaubenssatz wie folgt: „Überlastung ist ein Hauptproblem, besonders auf den Straßen und im Luftraum, und beeinträchtigt die Zugänglichkeit.“ (S. 4) Die Rede ist von „überlastungsbedingte Kosten“, die „bis 2050 um rund 50 Prozent ansteigen“ (S. 5).
Tatsächlich ist es in der Verkehrswissenschaft bekannt, dass neue Straßen immer neuen Verkehr – und neue Staus – produzieren. Umgekehrt sind schienengendene Verkehrs um ein Vielfaches effizienter; ihr Flächenverbrauch je Transportleistung, liegt bei einem Bruchteil desjenigen, den Pkw- und Lkw-Verkehre erfordern. Tatsächlich wird in der EU auf krasse Weise eine Infrastrukturpolitik betrieben, die die ineffizienteste motorisierte Verkehrsart fördern muss. 1990 – zur Zeit des ersten EU-Weißbuchs Verkehr - gab es auf dem Gebiet der heutigen EU (EU-27) ein Autobahnnetz mit 41.885 km; zur Zeit des 2001er Verkehrsbuchs waren es 54.700. Und 2008 sind es 66.000 km. Im gleichen Zeitraum entwickelte sich das Schienennetz auf dem gleichen Gebiet wie folgt: 231.582 km Länge 1990; 217.349 km im Jahr 2000 und 2008 212.842 km.(9) Hier wird klar, warum Kallas nicht die zitierte Grafik der aus dem Palacio-Weißbuchs übernimmt und aktualisiert.
Alle profitieren von einer richtigen Verkehrspolitik – gerade auch beim Thema externe Kosten.
Siim Kallas argumentiert: „Wir können die Abhängigkeit des Verkehrssystems von Öl aufheben, ohne seine Effizienz zu opfern und die Mobilität einzuschränken, so dass sich rundherum nur Vorteile ergeben.“(10) Von „externen Kosten“ ist im EU-Weißbuch nur am Rande die Rede; in der Regel geht es nur um „externe Effekte wie Lärmbelastung, Luftverschmutzung und Staus“, die dann „durch Entgelte für die Infrastrukturnutzung internalisiert werden können.“ Wohlgemerkt, es handelt sich um eine Kann-Bestimmung. Wobei klar gemacht wird, dass das, was seit zwei Jahrzehnten gefordert wird, auch im nächsten Jahrzehnt nicht angegangen werden soll: „Die Kommission wird Leitlinien für die Anwendung von Internationaliserungsentgelten auf alle Fahrzeuge und für alle wesentlichen externen Effekte ausarbeiten.“ (S. 18). An anderer Stelle ist verschwommen die Rede von einer „weiteren Internalisierung externer Kosten bei allen Verkehrsträgern, wobei gemeinsame Grundsätze angewandt werden und die Besonderheiten der einzelnen Verkehrsträger berücksichtigt werden.“ (S. 34) Es gibt aber bisher keine relevante Internalisierung externer Kosten; der Lkw-Verkehr beispielsweise hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verbilligt – bei einer „Internalisierung hätte er sich deutlich verteuern müssen; „gemeinsame Grundsätze“ auf diesem Gebiet gibt es ohnehin nicht.
Die seit Jahrzehnten debattierte und geforderte Besteuerung von Kerosin wird weiter auf die lange Bank geschoben, ja, es wird vor einer Anlastung der externen Kosten im Flugverkehr gewarnt: „Es ist darauf zu achten, dass der Flugverkehr in der EU keinen übermäßigen Belastungen ausgesetzt wird, die die Rolle der EU als globales Luftverkehrskreuz beeinträchtigen könnten. Die Flughafenkapazität muss optimiert und, wo nötig, erhöht werden, um die steigende Flugreisennachfrage (...) zu bewältigen.“
Gerade am Beispiel Flugverkehr wird deutlich, dass es nicht primär um Verkehrsbedürfnisse der Individuen geht, wenn die Nachfrage steigt oder zurückgeht, sondern um die Verkehrsmarktordnung. In Deutschland wurde in den Hochgeschwindigkeitsverkehr auf Schienen im Zeitraum1995 bis 2010 mehr als 50 Milliarden Euro investiert – doch der Schienenpersonenfernverkehr war in diesem Zeitraum sogar absolut rückläufig. Im gleichen Zeitraum stieg der deutsche Inlandsflugverkehr um 70 Prozent. Selbst auf Verbindungen mit gut ausgebauten Schienenverbindungen wie Frankfurt/M. -Berlin oder Köln – Berlin gab es in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg der Flugverkehrspassagiere.(11)
Kollektivgut Mobilität. Laut EU-Weißbuch ist „Mobilität das Lebenselixier des Binnenmarkts (...) Verkehr ermöglicht wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen.“ Bereits im 2001er Weißbuch war zu lesen, dass die EU hinsichtlich von ”Eingriffen” in den Verkehrssektor ”weder über die Befugnisse noch über die Mittel” verfügen würde, um ”Verkehrsbeschränkungen vorzuschreiben”. Ein Jahrzehnt später wird Herr Kallas bei diesem Thema ausgesprochen resolut und postuliert: „Die Einschränkung von Mobilität ist keine Option.“ Als ob nicht jede Geschwindigkeitsbeschränkung, jede Citymaut oder auch mal ein Ejafjallayökull (CHECK!) Mobilität einschränken würden.
Der Markt wird es richten. Ziel der EU-Kommission ist „im nächsten Jahrzehnt (...) einen tätsächlich einheitlichen europäischen Verkehrsraum zu schaffen, in dem alle noch verbleibenden Hindernisse zwischen Verkehrsträgern und nationalen Systemen beseitigt (...) und das Entstehen multinationaler und multimodaler Betreiber gefördert wird.“ (S. 11) Insbesondere im Eisenbahnsektor soll eine umfassende Marktöffnung erzwungen werden; proklamiert werden hier: „Öffnung der inländischen Schienenenpersonenverkehrsdienste für den Wettbewerb, u.a. durch obligatorische Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Rahmen von Ausschreibungen (...) Gewährleistung eines effektiven und diskriminierungsfreien Zugangs zur Schieneninfrastruktur einschließlich schienenverkehrsbezogener Leistungen, insbesondere durch die strukturelle Trennung zwischen Infrastrukturbetrieb und Dienstleistungserbringung.“ (S. 21).
Auch bei der Finanzierung der Kosten für den vorgeschlagene massiven Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen sollen der Markt und Banken bestimmend werden: „Um das Prinzip der privaten Finanzierung nutzen zu können, müssen auch ein besserer Regulierungsrahmen und innovative Finanzinstrumente geschaffen werden.“ (S. 17)
Übrigens: Die Kolleginnen und Kollegen haben bei dem eingangs angeführten EVG-Zitat nicht nur eine Passage falsch verstanden. Wenn es heißt: „30 Prozent des Straßengüterverkehrs über 300 km sollten bis 2030 auf andere Verkehrsträger wie Eisenbahn- und Schiffsverkehr (gemeint: Küstenschiffahrt; W.W.) verlagert werden; mehr als 50 Prozent bis 2050.“ (S. 10), dann heißt das doch im Umkehrschluss, dass der Güterverkehr mit kürzeren Distanzen als 300 km Entfernung – und das ist weiterhin das Gros aller Güterverkehre – außen vor bleiben. Vor allem müssen Gewerkschaften Seite 27, Punkt 23 zur Kenntnis und ernst nehmen. Dort wird gefordert: Eine „Festlegung von Mobilitätsplänen, um die Diskontinuität im Störungsfall aufrechtzuerhalten. In den Plänen sollten die Prioritätensetzung für die Nutzung von Arbeitseinrichtungen, die Zusammenarbeit von Infrastrukturbetreibern, Verkehrsunternehmen, nationalen Behörden und Nachbarländern sowie die vorübergehende Annahme oder Lockerung spezifischer Vorschriften behandelt werden.“
Das liest sich wie die Ankündigung von Streikverboten oder wie staatlich organisiertem Streikbruch – erneut begründet mit dem Gott Mobilität. Schließlich, so die einleitenden Sätze des neuen Weißbuchs, gilt: „Der Verkehr ist die Grundlage unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Mobilität ist das Lebeneselixier des Binnenmarkts und prägt die Lebensqualität der Bürger.“
1) Christian Hey, Nachhaltige Mobilität in Europa – Akteure, Institutionen und politische Strategien, Wiesbaden 1998, S. 104.
2) Europäische Kommission, Die künftige Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik – Globalkonzept einer Gemeinschaftsstrategie für eine auf Dauer tragbare Mobilität, Brüssel 1992 (KOM (92)494 endg., Ziffer 36 (Stabilisierung der CO-2-Emissionen) und Ziffer 172 (Halbierung des spezifischen Energieverbrauchs je Kfz); Ziffer 10 (Verkehrswachstum unabänderlich) und 28 (Überlastung; absehbare Verdopplung).
3) Christian Hey, a. a. O., S. 178.
4) Europäische Kommission, ”Weißbuch – Die europäische Verkehrspolitik bis 2010: Weichenstellungen für die Zukunft”, Brüssel 2001, im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe.
5) 2001er Weißbuch, S.13 (Besitzstand Mobilität); S. 74 (Verkehrssystem entsprechend Bedürfnissen nutzen können); S.84 (”Kollektivgut Verkehrsinfrastruktur”).
6) 2001er Weißbuch, a. a. O., S. 15
7) Weißbuch, EU-Kommission, KOM (2011) 144 endgültig. Brüssel 2011.
8) In: Internationales Verkehrswesen vom 6. April 2011.
9) EU Energy and Transport in Figures – Statistical Pocketboook 2010, Tabellen 3.5.1 und 3.5.3.
10) Internationales Verkehrswesen vom 6. April 2011.
11) 2005 gab es 1.546.000 Fluggäste auf der Strecke Frankfurt/M. - Berlin; 2008 waren es 1.600.100; 2005 gab es 916.600 Fluggäste auf der Strecke Köln – Berlin; 2008 waren es 1.148.700. Angaben nach: Energy and Transport ..., Tabelle 3.4.4a.