Der McNulty-Report: Bahnprivatisierung in Großbritannien schöngeredet
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- 13 März 2012
- von Bernhard Knierim
Dieser Artikel erscheint in leicht gekürzter Form in der Zeitschrift Lunapark21, Ausgabe 17.
Wer erklären will, warum Bahnprivatisierungen keine gute Idee sind, muss nur auf das Beispiel Großbritannien verweisen. Das Land war bei diesem Thema Vorreiter: Schon in der Ära der „Iron Lady“ Margret Thatcher wurden die Weichen gestellt, und 1993 begann dann die tatsächliche Privatisierung – mit anfangs traumhaften Gewinnen insbesondere bei der börsennotierten Infrastrukturgesellschaft Railtrack. Die Befürworter der Privatisierung schwelgten im Glück und sahen ihre Thesen von der Dynamik des Marktes, die der Bahn so gut tun würde, bestätigt. Doch dann wurden mehr als 20 schwerwiegende und oft tödliche Unfälle nach der Privatisierung zum Symbol für deren Scheitern: In Southhall starben 1997 sechs Menschen und wurden 150 verletzt, beim Unfall in Ladbroke Grove 1999 starben 31 Menschen und wurden mehr als 520 verletzt, und in Hatfield gab es 2000 vier Tote und 70 Verletzte. Schienenbrüche und technisches Versagen machten deutlich, dass die Gewinne jahrelang auf Kosten der Substanz gemacht worden waren – und diese war nach ein paar Jahren aufgebraucht. Nach der darauf folgenden Pleite von Railtrack ist das Schienennetz 2001 rückverstaatlicht worden und musste in großem Umfang erneuert werden, was den britischen Staat viele Milliarden gekostet hat.
Seitdem ist in Großbritannien nur noch der Betrieb auf der wieder staatlichen Infrastruktur privat. 25 Gesellschaften tummeln sich auf dem Netz und betreiben jeweils eine oder mehrere Strecken zumeist als regionale Monopole (eine Karte der von den unterschiedlichen Bahngesellschaften betriebenen Strecken findet sich hier: http://www.nationalrail.co.uk/passenger_services/maps/nationalrailoperatorsmap.pdf). Das ist genau der Ausschreibungswettbewerb, wie ihn auch in Deutschland viele vom konservativen Lager über die FDP bis zu den Grünen fordern, und wie er im Regionalverkehr teilweise schon besteht. Auch die Deutsche Bahn ist über ihre Tochter Arriva in Großbritannien im Geschäft und betreibt mehrere Linien in Wales. Führt ein solcher Wettbewerb nun tatsächlich zu sinkenden Preisen und besseren Leistungen, wie von den Befürwortern behauptet wird? Das wollten auch die Briten herausfinden, und deswegen hat das Transportministerium zusammen mit dem Büro für Eisenbahnregulation den Report „Realising the Potential of GB Rail“ beauftragt. Unter Leitung von Sir Roy McNulty haben Ökonomen die Ergebnisse von 18 Jahren privatisierter Bahn genauer unter die Lupe genommen. Herausgekommen ist die 320 Seiten dicke „Rail Value for Money“-Studie, die im Mai 2011 erschienen ist.
Kein gutes Zeugnis für die Bahn
Die Kosten sind (umgerechnet auf die Transportleistung) seit den 1990er Jahren trotz des technischen Fortschritts nicht gesunken, sondern die privaten Bahnen erwirtschaften nach wie vor jedes Jahr erhebliche Verluste, die vom Staat ausgeglichen werden müssen. Diese kosten die Steuerzahlerinnen und -zahler 4,3 Milliarden britische Pfund (ca. 5,2 Mrd. Euro) – das sind mehr als die staatliche Bahn vor der Privatisierung bekam, auch prozentual an den gesamten Kosten. Damit ist das Haupt-Privatisierungsargument, die Kostensenkung für den Staat, völlig verfehlt worden.Aber auch der europäische Ländervergleich ist aufschlussreich: Gegenüber anderen Bahnen ist die britische um 40 Prozent ineffizienter, und diese "Effizienzlücke" ist seit der Privatisierung erheblich größer geworden. Damit kostet die britische Bahn sowohl die Kunden als auch die Steuerzahler jeweils ca. ein Drittel mehr als in den zum Vergleich herangezogenen Ländern. Ein Personenkilometer (also ein durchschnittlicher Kilometer, den ein Mensch mit der Bahn zurücklegt) in Großbritannien verursacht Gesamtkosten von 0,202 brit. Pfund (24,3 €-Cent). Dieser Wert wird in dem Report mit anderen Ländern in Europa verglichen, in denen ein Personenkilometer durchschnittlich 40 Prozent günstiger ist als in Großbritannien. Am günstigsten ist die Schweiz, in der ein Personenkilometer mit 0,112 brit. Pfund (13,5 €-Cent) nur gut halb so viel kostet wie in Großbritannien.
Das ist insofern interessant, dass die Schweiz eine ganz andere Philosophie verfolgt und auf ein vollständig öffentliches Bahnsystem setzt, das in Hinblick auf Zugdichte, Pünktlichkeit und Service von keiner anderen Bahn in Europa übertroffen wird. Zudem bieten die SBB ein einheitliches Fahrplan- und Tarifsystem im gesamten Land, während man in Großbritannien für die 25 regionalen Unternehmen jeweils eigene Fahrpläne und Ticketsysteme hat. Auch in Bezug auf den Verkehrsanteil (15,1%) ist die Schweizer Bahn allen anderen Bahnen in Europa weit überlegen und zeigt damit, zu welchen Leistungen eine gut geführte öffentliche Bahn fähig ist.
Der Markt soll es richten
Was ist der Grund für die hohen Kosten bei der britischen Bahn? Der Report nennt zuerst einmal eine zu starke Einmischung der Regierung, was den Bahnunternehmen zu wenig unternehmerische Freiheit lasse. Die Regierung setze ineffektive und falsche Anreize, insbesondere seien die Perioden der Vergabe an die Unternehmen zu kurz. Hier fragt man sich, was die Alternative sein soll: Wenn den Unternehmen nicht sehr genaue Vorgaben gemacht werden, wie soll dann ein wenigstens einigermaßen zuverlässiger Bahnverkehr sichergestellt werden? Und auch bei den jetzigen nach dieser Auffassung zu engen Regelungen sind Service und Zuverlässigkeit der meisten Züge in Großbritannien schon deutlich schlechter als in anderen europäischen Ländern – warum sollte das bei geringerer Regulierung besser werden?Entscheidend für die hohen Kosten ist laut Studie auch eine Fragmentierung der Strukturen, was eine große Ineffizienz erzeuge. Man mag sich wundern, warum man für diese Erkenntnis die Berechnungen von Ökonomen braucht: Wenn man statt eines zusammenhängenden Bahnunternehmens 25 Unternehmen mit jeweils eigener Planung, Wartung, eigenem Management etc. hat, und wenn diese Unternehmen darüber hinaus noch regelmäßig umfangreiche Angebote für den Betrieb einer Strecke abgeben müssen, so ist es kaum verwunderlich, dass hier zahlreiche Parallelstrukturen existieren und dies daher teurer sein muss – es gibt Synergieverluste. Die Wettbewerbsbefürworter versprechen immer, dass diese Verluste durch die positiven Effekte, die durch die „Dynamik des Marktes“ entstünden, überkompensiert würden. Der Report macht diese Hoffnung mit empirischen Daten zunichte.
Der Bericht bemängelt weiter, die Firmen würden eher ihren eigenen Gewinn maximieren als das Ergebnis des gesamten Systems, es gebe keine Partnerschaft und keine „Kultur der kontinuierlichen Verbesserungen“, die zur Kostenreduktion notwendig seien. Dieser Vorwurf klingt endgültig nach einer Bankrotterklärung der gesamten Privatisierung. Es ist die Ideologie des „Wettbewerbs“, dass die Unternehmen zu ihrem eigenen Nutzen wirtschaften und dies dann angeblich den Gesamtnutzen erhöhe. Dass die Unternehmen primär ihren eigenen Nutzen im Auge haben, kann man ihnen kaum zum Vorwurf machen, sondern dieses Problem liegt schlichtweg im System.
Pendler verzerren Statistik
Weitere Gründe für die hohen Kosten sieht der Report in schlechten Preissystemen der Bahnunternehmen, die „nicht die richtigen Preissignale sendeten“, insbesondere für eine gleichmäßige Auslastung der Züge. Dazu komme ein falsches Arbeitskräfte-Management mit zu hohen Löhnen und ineffizienter Arbeit. Das klingt nach den Vorwürfen, die immer traditionell den Staatsbahnen gemacht werden. Zu der gleichmäßigen Auslastung der Züge ist zu sagen, dass dieses Argument oft überbewertet wird. Es ist gerade eine Stärke des Systems Bahn, dass man – anders als z.B. im Luftverkehr – flexibel auf Nachfrageschwankungen reagieren kann. Leere Plätze verursachen keine besonders hohen Kosten, da Roll- und Luftwiderstand gering sind. Auch dies beweist wieder das Beispiel Schweiz: Hier ist die durchschnittliche Auslastung aufgrund der hohen Zugdichte im Vergleich der europäischen Bahnen – abgesehen von Großbritannien – am niedrigsten, und dennoch sind die Kosten ebenfalls niedrig.Interessanterweise wächst der Bahnverkehr in Großbritannien trotz des schlechten Services und der hohen Preise, was von einigen als Beweis für den Erfolg der Privatisierung angegeben wird. Dieses Wachstum, das auf einem recht niedrigen Niveau stattfindet, ist allerdings zum überwiegenden Teil auf den Verkehr von und nach London zurückzuführen, weil immer mehr Menschen aufgrund der horrenden Immobilienpreise pendeln müssen, und das Pendeln mit dem Auto aufgrund der Innenstadtmaut unattraktiv ist. Der Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass viele Menschen zwei bis drei prekäre Jobs miteinander verbinden und dadurch noch mehr pendeln; die Gesamtzahl der Jobs in Großbritannien hat sich dadurch seit Mitte der 1990er Jahre mehr als verdoppelt. Das Wachstum des Verkehrs sagt also weniger über die Bahn als mehr über die unsoziale Arbeitswelt in Großbritannien aus.
Lehren aus dem Report
Die einzig sinnvolle Forderung kann nur dahin gehen, das Experiment der Privatisierung als gescheitert zu erkennen und zu einer öffentlichen Bahn zurückzukehren. Dies ist auch die Forderung einer überwältigenden Mehrheit der britischen Bevölkerung. Die Empfehlungen der Ökonomen gehen freilich in eine andere Richtung. Schließlich gilt weiter das Mantra: Wenn die Privatisierung nicht funktioniert, muss noch stärker privatisiert werden. In diesem Sinne sollten nach Meinung der Autoren bei den zukünftigen Vergaben der Verkehre an die Unternehmen weniger Vorgaben gemacht werden, um „mehr Freiheit zur Antwort auf den Markt“ zu ermöglichen. Den Betreibern sollten zudem Anreize gemacht werden, ihre Kosten zu senken – wobei sich die Frage aufdrängt, warum sie diese als profitorientierte Unternehmen nicht jetzt schon haben und wie man bei einer geringeren Regulierung noch die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Verkehrs gewährleisten will?Das Transportministerium solle mit der Industrie zusammenarbeiten, um zu analysieren, wie die Subventionen verwendet werden und was die Gegenleistung dafür sei. Auch solle das Ministerium die Preissysteme durchdenken und reformieren; für die Beschäftigten solle es eine Lohnobergrenze geben, wodurch die Kosten um 35 Prozent gesenkt werden könnten. Darüber hinaus solle Personal eingespart werden, indem der Betrieb der Züge nur mit einem Lokführer ohne weiteres Zugpersonal eingeführt wird. Hier bestätigt sich also wieder das Vorurteil, dass der „Wettbewerb im Schienenverkehr“ zuerst auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird. Zudem sollten Ticketschalter kürzere Öffnungszeiten haben und stattdessen mehr Automaten eingeführt werden – eine weitere Reduktion des ohnehin schon schlechten Services.
Abschreckendes Beispiel
Nach den Empfehlungen der Autoren soll die staatliche Infrastrukturgesellschaft ‚Network Rail‘ dezentralisiert werden, und einigen Bahnbetreibern zusammen mit dem Betrieb der Züge auch die Konzession für die Infrastruktur erteilt werden, um eine sogenannte vertikale Integration zu ermöglichen. Hier lauert die Gefahr, den Fehler aus den 1990ern zu wiederholen, als der private Betrieb der Infrastruktur mit dem Ziel der Profitmaximierung bekanntlich in die Katastrophe geführt hat. Gleichwohl ist eine Integration von Infrastruktur und Betrieb unter einem Dach zweifelsohne sinnvoll – nur sollte dieses Dach besser keines sein, das primär den Unternehmensgewinn zum Ziel hat.Werden diese Empfehlungen der Autoren des Reports umgesetzt, dürfte die britische Bahn sich von schlecht zu noch schlechter entwickeln. Die wahre Ursache für die hohen Kosten, nämlich die Fragmentierung der Prozesse durch die vielen verschiedenen Unternehmen, wird damit nicht behoben. So beschäftigt Network Rail z.B. 600 Anwältinnen und Anwälte, deren Aufgabe es ist, sich mit den Bahnbetreibern zu streiten, wer für Verspätungen und Ausfälle verantwortlich ist.
Andere Länder haben die Konsequenzen besser verstanden: Sowohl Neuseeland als auch Estland haben ihre zuvor privatisierten Bahnen – wenn auch mit großen Verlusten – zurückgekauft, weil sich die Privatisierung als Katastrophe erwiesen hatte.
Auch für die Bahn in Deutschland sollten wir aus dem Report lernen: Bahnverkehr ist ein natürliches Monopol, und die Vergabe dieses Monopols an private Anbieter auf Zeit führt zu einer Abschöpfung der Gewinne bei gleichzeitiger Subventionierung durch den Staat. Ein Bahnsystem mit einem „Wettbewerb“ von Anbietern führt damit nicht nur zu einem unübersichtlichen und qualitativ schlechten Bahnverkehr, sondern kostet darüber hinaus auch noch sehr viel mehr Geld als ein integriertes System. Statt uns an Großbritannien zu orientieren sollten wir von der Schweiz lernen, wie mit eine öffentlichen Bahn eine sehr viel bessere Leistung mit geringeren öffentlichen Zuschüssen erreicht werden kann.
Wer selber nachlesen möchte: Der McNulty-Report kann unter http://www.rail-reg.gov.uk/server/show/ConWebDoc.10401 heruntergeladen werden.