Bahnliberalisierung: Mehr Wettbewerb schadet, denn Qualität und Sicherheit sinkt
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- 16 April 2013
Hearing zum 4. Eisenbahnpaket der Linksfraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,
Auch ich begrüße Sie herzlich zur heutigen Anhörung und freue mich auf den Austausch und die Diskussion mit Ihnen.
Mein Name ist Sabine Wils - ich bin Abgeordnete der LINKEN im Europäischen Parlament und Mitglied des Ausschusses für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, sowie stellvertretendes Mitglied im Verkehrsausschuss.
Als Gewerkschafterin interessieren mich das Eisenbahnpaket und die möglichen Auswirkungen auf die Beschäftigten im besonderen Maße.
Bevor ich detaillierter zu den zwei Hauptthemen der Anhörung komme - die sogenannte "PSO-Verordnung 1370" und Sicherheit -, möchte ich zunächst einige generelle Anmerkungen machen:
Die Europäische Kommission erachtet Liberalisierung als den Schlüssel zum Erfolg. Was den Verkehrsbereich anbelangt, konnten wir dies erst kürzlich im Rahmen des Flughafenpakets beobachten, insbesondere bezüglich der Bodenverkehrsdienste, wo massiv für eine weitere Marktöffnung geworben wurde. Jetzt steht der Eisenbahnsektor erneut auf der Agenda.
Das vierte Eisenbahnpaket umfasst sechs Gesetzgebungsvorschläge, mit denen die verbleibenden Hindernisse für die Vollendung des einheitlichen europäischen Eisenbahnraums beseitigt werden sollen.
Nachdem die Schienengüterverkehrsmärkte bereits seit Januar 2007 und die internationalen Personenverkehrsdienste seit 2010 vollständig für den Wettbewerb geöffnet sind, soll nun auch der inländische Personenverkehr dem Wettbewerb preisgegeben werden.
Neben der Liberalisierung der Schienenpersonenverkehrsmärkte zielen die Vorschläge auf eine Verbesserung der technischen Interoperabilität des Bahnverkehrs in Europa, mehr Sicherheit und weitere Maßnahmen zur Trennung von Eisenbahninfrastruktur und Betrieb.
Nur unter strengen Auflagen sollen integrierte Bahnstrukturen noch zulässig sein. Mit Blick auf Deutschland bleibt eine DB-Holdingstruktur weiter möglich, allerdings unter harten Bedingungen: Der EU-Kommissar sprach von "chinesischen Mauern", die Konzerne künftig zwischen ihren Teilbereichen einziehen müssen.
Wir als LINKE sind fest der Meinung, dass solch eine neoliberale Politik zur Einschränkung der Rechte der Beschäftigten führt, den Druck zur Privatisierung öffentlich organisierter Betriebe erhöht und nicht zuletzt die Qualität und Sicherheit für die Kundinnen und Kunden der Bahn verschlechtert.
EU-Kommissar Siim Kallas befürchtet hingegen keine verschlechterten Arbeitsbedingungen: »Die Erfahrungen in den Mitgliedstaaten, die ihre Märkte geöffnet haben, zeigt, dass dies zu besseren Arbeitsplätzen führen dürfte«, heißt es einer Pressemitteilung [1].
Diese Aussage ist nicht zuletzt in Hinblick auf Großbritannien äußerst unangebracht. Dieses Beispiel hat auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass mehr Wettbewerb schadet, denn die Qualität und Sicherheit sinkt.
Neue prekäre und unstabile Arbeitsplätze sind auf Kosten von gut abgesicherten geschaffen worden, Sozial- und Lohndumping haben Einzug im Eisenbahnsektor gehalten. Zudem stiegen Fahrpreise und nur mehr die rentablen Strecken werden bedient.
Der Eisenbahnsektor ist ein zusammenhängendes Gesamtgefüge, der nicht in marktradikale und profitorientierte Einzelteile zerlegt werden darf. Nur eine öffentlich und demokratisch gesteuerte Verkehrspolitik kann die notwendigen Investitionen in die Zukunft garantieren.
Daher ist die Linksfraktion im Europaparlament auf der Seite der Gewerkschaften und eindeutig für den Erhalt der integrierten Bahnunternehmen in öffentlicher Hand. Diese bieten nicht nur soziale Sicherheit für die Beschäftigten. Sie bieten auch die Garantie dafür, mehr Transporte auf die Schiene zu bekommen und dienen damit dem sozial-ökologischen Umbau in der Verkehrspolitik.
Lassen Sie mich nun auf die Schwerpunkte der Veranstaltung eingehen.
Verordnung 1370
Bestandteil des Eisenbahnpakets ist ein Vorschlag zur Änderung der Verordnung über gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen („Public Service Obligation", PSO [2]) für öffentliche Verkehrdienste auf Schiene und Straße aus dem Jahr 2007 (VO 1370).
Nach zehn Jahren schwieriger Diskussionen und Kompromisssuche sowie drei unterschiedlichen Kommissionsvorschlägen wurde diese Verordnung verabschiedet und trat 2009 in Kraft. In Deutschland ist wohlgemerkt erst am 01.01.2013 ein in Hinblick auf die VO 1370 novelliertes Personenbeförderungsgesetz in Kraft getreten. Bevor die Verordnung jetzt zur praktischen Anwendung gebracht werden kann, soll sie grundsätzlich revidiert werden. Diesen Vorschlag erachte ich in zeitlicher und auch inhaltlicher Hinsicht als fragwürdig.
Die Kommission schlägt entweder zusätzliche -zumeist bürokratische - Anforderungen oder aber Einengungen von Handlungsoptionen der zuständigen Behörden gegenüber dem bisherigen Status Quo der VO 1370 vor.
Die Regelungen zielen in erster Linie darauf ab, obligatorische wettbewerbliche Vergabeverfahren im Schienenpersonennahverkehr [3] zu etablieren (Streichung von Art. 5, Abs.6).
Die bestehenden Vorschriften bieten den zuständigen Behörden Möglichkeiten, öffentliche Dienstleistungsaufträge im Eisenbahnsektor direkt zu vergeben und so Ausschreibungsverfahren zu vermeiden [4]. Jetzt will die Kommission allerdings die Ausschreibung öffentlicher Dienstleistungsaufträge ab Dezember 2019 vorschreiben. Direkt vergebene Aufträge dürfen höchstens bis 31.12.2022 laufen.
Ein Schwellenwert, unterhalb dessen Aufträge direkt vergeben werden können, wird es den zuständigen Behörden ermöglichen, kein Ausschreibungsverfahren zu organisieren, wenn die erwarteten Einsparungen an öffentlichen Mitteln nicht größer sind als die Kosten einer Ausschreibung. Wir erachten die Schwellenwerte für die Direktvergabe allerdings als zu niedrig, um in der Praxis wirklich relevant zu werden.
Ich spreche mich gegen diese Änderungen der Verordnung aus. Den durch Protokoll 26 des Lissabonner Vertrages garantierte Grundsatz der Wahlfreiheit der zuständigen Behörde hinsichtlich der Organisationsform öffentlicher Dienste - die Entscheidung zwischen Direktvergabe oder Ausschreibung - muss aufrechterhalten werden.
Anderenfalls wird der Handlungsspielraum der Gebietskörperschaften weiter eingeschränkt. Es ist zu befürchten, dass dadurch Qualität, Sicherheit, Leistungsfähigkeit und flächendeckende Verfügbarkeit von ÖPNV-Dienstleistungen gefährdet werden.
Ferner sollen Ziele und Umsetzungsmaßnahmen der ÖPNV-Politik in regelmäßig aufzustellenden "Plänen für den öffentlichen Verkehr" durch die zuständigen Behörden festgelegt werden (Art.2a).
Beinhaltet sollen neben grundlegenden Anforderungen, geltende Fahrgastrechte, sowie die Bereiche Sozial-, Beschäftigungs- und Umweltschutz sein.
Spezifikationen der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen dürfen nicht über die Ziele des Verkehrsplans hinausgehen und müssen verhältnismäßig sein.
Nahverkehrspläne können ein wichtiges und nützliches Instrument sein, allerdings entspricht eine europaweite Pflicht zur Aufstellung von Nah- und Fernverkehrsplänen, die so detailliert sind, dass z.B. "operationelle Anforderungen wie die Beförderung von Fahrrädern" geregelt sind, nicht dem Grundsatz der Subsidiarität.
Bei dem Kommissionsvorschlag handelt es sich nicht um ein Werkzeug zur besseren und langfristigen Planung des öffentlichen Verkehrs, sondern vielmehr um ein zusätzliches bürokratisches Instrument, mit dem die Vergabe durch die zuständige Behörde kontrolliert werden soll.
Im direkten Zusammenhang mit der Veränderung der VO 1370 muss der bereits im Dezember 2012 eingebrachte Vorschlag zur Veränderung des Beihilferechts betrachtet werden. Dieser sieht vor, dass Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im öffentlichen Personenverkehr, momentan in Art.9 geregelt, in den Geltungsbereich der VO 994/98/EG [5] überführt werden.
Nach Artikel 9 der geltenden VO 1370 sind im Einklang mit dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistungen von der Pflicht zur vorherigen Anmeldung ("Notifizierung") bei der Kommission freigestellt.
Eine Annahme des Vorschlages würde die Kommission ermächtigen, darüber zu entscheiden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen sie im Wege einer sogenannten Gruppenfreistellungsverordnung solche Ausgleichsleistungen für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt.
Würde die Kommission von der Ermächtigung gebraucht machen, eine Gruppenfreistellungsverordnung zu erlassen, so würde Art. 9 der VO-1370 sechs Monate nach Inkrafttreten der Gruppenfreistellungsverordnung gestrichen.
Hier ist eindeutig eine Ausweitung der Kompetenzen der Kommission festzustellen, die in dieser Form nicht akzeptabel ist.
Die Verschiebung des Politikansatzes, von einem verkehrspolitischen Thema, hin zu einer staatlichen Beihilfe Problematik lehnen wir ab!
Im Folgenden werde ich noch kurz auf den Aspekt Eisenbahnsicherheit und Sicherheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach der Öffnung der Märkte eingehen.
Der Schienenverkehr ist nicht nur eine nachhaltige und umweltfreundliche Verkehrsart. Er genießt auch zu Recht den Ruf ein besonders sicheres Verkehrsmittel zu sein - auch wenn dieser in den letzten Jahren oftmals aufgrund verheerender Unfälle usw. gelitten hat und wir als Linke nicht aufhören zu kritisieren, dass leider oftmals Gewinn wichtiger erscheint als die Sicherheit.
Ein schrecklicher Unfall ereignete sich zum Beispiel 2010 in Viareggio in Italien. 22 Einwohner verloren ihr Leben.
Statistisch gesehen ist die Bahn pro Fahrgastkilometer weitaus sicherer als der Straßenverkehr: Im Jahr 2010 gab es 62 Unfalltote gegenüber 31000 auf den Straßen der EU.
Die Vorschläge der Kommission sehen vor, die Europäische Eisenbahnagentur (ERA) mit Sitz im französischen Valenciennes zur "einzigen Anlaufstelle" zu machen, die EU-weit gültige Genehmigungen/ Zulassung für Züge und anderes Rollmaterial sowie Sicherheitsbescheinigungen für Eisenbahnunternehmen ausstellt.
Es sollen nicht mehr verschiedene, länderspezifische, sondern nur noch eine einzige Zulassung geben, die dann EU-weit gilt und den Einsatz im grenzüberschreitenden Verkehr ermöglicht.
Wie die ETF sehe ich die ERA als eine Hüterin der Eisenbahnsicherheit und zwar in voller Unabhängigkeit von der EU-Kommission. Sie darf kein Akteur sein, der Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit einander gegenüberstellt.
Die Skepsis gegenüber einer Verlagerung von Kompetenzen an die Europäische Eisenbahnagentur ist verständlich. Ich bin der Auffassung, dass die nationale Ebene weiterhin eine große Rolle spielen muss.
Der Einflussbereich ihrer Sicherheitsbehörden darf nicht eingeschränkt werden und die hohe Fachkompetenz der nationalen Zulassungsbehörden sollte weiterhin genutzt werden.
Es muss klar sein, dass eine Harmonisierung der Sicherheitsnormen die nationalen Normen niemals zurückstufen darf.
Das 4. Eisenbahnpaket soll gewährleisten, dass Mitgliedstaaten, die öffentliche Dienstleistungsaufträge auf private Unternehmen übertragen wollen, besondere Maßnahmen ergreifen können, um die bisherigen Rechte der Beschäftigten zu schützen, wenn Aufgaben an Dritte vergeben werden.
Dieser Aspekt ist begrüßenswert, geht aber nicht weit genug. Aus der "Kann"-Vorschrift muss eine "Muss"-Vorschrift werden. Es reicht nicht aus, den Schutz der Rechte der Beschäftigten in das Belieben der Arbeitgeber zu stellen. Hier sind verpflichtende Regelungen zu treffen.
Jetzt freue ich mich auf eine Diskussion mit Ihnen,
Vielen Dank!
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- [1] PM vom 30.01.2013, Reference: IP/13/65
- [2] Verpflichtungen, die mit der Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen verbunden sind / Leistungen, deren Erbringung im öffentlichen Interesse liegt, deren Kosten jedoch nicht allein aus Tariferlösen gedeckt werden können (meist liegen die Ticketeinnahmen nur bei rund einem Drittel). Solche Leistungen würden am Markt nicht angeboten werden; zu ihrer Aufrechterhaltung bedarf es einer Mitfinanzierung durch die öffentliche Hand.
- [3] SPNV: umfasst alle schienengebundenen Angebote öffentlicher, das heißt für jeden zugänglicher Verkehre innerhalb des Öffentlichen – Personen – Nahverkehrs (ÖPNV), ÖPNV: umfasst alle Angebote öffentlicher, das heißt für jeden zugänglicher Verkehre mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln (z.B. Züge, U-Bahnen, Busse, Rufbusse, Anruf-Sammel-Taxen, Wassertaxen, Taxen), bei denen die Mehrzahl der Beförderungsfälle eine Reichweite von nicht mehr als 50 km hat.
- [4] Direkt vergebene öffentliche Dienstleistungsaufträge decken 42% aller Personenkilometer in der EU ab. Die bisherige Verordnung kennt drei Arten der Vergabe: Vergabe im Wettbewerb (Art.5, Abs.1), die Direktvergabe (Art.5, Abs.2) und Vergabe im Wege eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens (Art.5, Abs.3). Drei Arten der Direktvergabe: Direktvergabe an einen internen Betreiber (Art.5, Abs.2), Direktvergabe an kleine und mittelständische Unternehmen (Art.5, Abs.4), Direktvergabe von Eisenbahnverkehren (Art.5, Abs.6).
- [5] Verordnung (EG) Nr. 994/98 des Rates vom 7. Mai 1998 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 (vormals Artikel 92 und 93) des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf bestimmte Gruppen horizontaler Beihilfen.