Das Scheitern der Bahnreform und die Alternative

Zwölf Thesen von Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

20 Jahre nach Gründung der Deutschen Bahn AG ist – anstelle der vielen oberflächlichen Lobhudelei – eine gewissenhafte Bilanz der Bahnreform und die Skizze einer Alternative erforderlich. Diese soll im Folgenden, in zwölf Thesen gefasst, gezogen werden. (Text als pdf, 7 Seiten, 135kB)
  1. Bahnreform ohne Verkehrsreform: Das vorprogrammierte Scheitern
  2. Die drei wesentlichen Ziele der Bahnreform wurden nicht erreicht
  3. Marode Infrastruktur
  4. Falsche Schwerpunktsetzung: Hochgeschwindigkeitsverkehr
  5. Die begrüßenswerten Erfolge im Nahverkehr haben wenig mit der Bahnreform und nichts mit „Wettbewerb“ zu tun.
  6. Der Systemvorteil Sicherheit wird gefährdet.
  7. Der Umgang der DB AG mit den Bahnbeschäftigten ist ein Skandal.
  8. Die Bilanzen der DB AG sind Kartenhäuser; die ausgewiesenen Gewinne fiktiv.
  9. Die Global-Player-Politik der Deutschen Bahn ist fatal. Mit ihr werden Milliarden an Steuergeldern zweckentfremdet eingesetzt.
  10. Die Bahnreform zielte von Anfang an auf Börsengang und Bahnprivatisierung. Dieses Ziel könnte bald auch von der neuen Großen Koalition verfolgt werden.
  11. Die DB AG agiert längst wie ein privatwirtschaftlicher Konzern. Die Unternehmensform der Aktiengesellschaft erweist sich als kontraproduktiv.
  12. Nach 20 Jahren mit negativer Bahnreform-Erfahrung ist ein Neuanfang erforderlich. Die Elemente einer Alternative können skizziert werden.

Strutkurdaten Deutsche Bahn AG 1991-2012


 

1.    Bahnreform ohne Verkehrsreform: Das vorprogrammierte Scheitern

Die kontinuierlichen Verluste von Marktanteilen, die die Bundesbahn in den Jahren 1949 bis 1990 und die Bundesbahn und Reichsbahn 1991-1993 hinnehmen mussten, haben ihre hauptsächliche Ursache nicht in einer falschen Unternehmenspolitik und nicht in einer falschen Unternehmensform. Entscheidend dafür war und ist die Verkehrsmarktordnung. Diese begünstigt strukturell den Straßenverkehr und die Luftfahrt und benachteiligt die Schiene. Bereits die Tatsache, dass die Kosten für den Straßenverkehr und die Luftfahrt (u.a. Infrastruktur, Unterhalt derselben) grundsätzlich allgemeine öffentliche Ausgaben sind, wohingegen bei der gegebenen Struktur des Schienenverkehrs alle Kosten desselben – unabhängig von den staatlichen Zuschüssen – immer  Kosten der maßgeblichen Eisenbahn-Unternehmens (Bundesbahn, Reichsbahn bzw. Deutsche Bahn AG) sind, drückt die Schieflage beim Verkehrsträger-Vergleich aus. Diese Ungleichbehandlung ist nochmals sehr viel größer, wenn die von der Gesellschaft getragenen sogenannten externen Kosten der unterschiedlichen Verkehrsträger (gesundheitliche Folgen, Umweltschäden, Klimabelastung) mit berücksichtigt werden.
Eine isolierte Bahnreform wäre daher nur dann erfolgreich im Sinne der Stärkung der Schiene gewesen, wenn es zu einer Reform der Verkehrspolitik – zu einer Beendigung der verzerrten Verkehrsmarktordnung – gekommen wäre. Das war nicht der Fall. Damit war das Scheitern der Bahnreform vorprogrammiert.

2.    Die drei wesentlichen Ziele der Bahnreform wurden nicht erreicht

Die drei Ziele der 1994er Bahnreform lauteten: den Marktanteil der Schiene erhöhen, die öffentlichen Ausgaben für das System Schiene reduzieren und ein fahrgastfreundliches Unternehmen Deutsche Bahn AG formen. Diese drei Ziele wurden nicht erreicht. Die Marktanteile blieben im Wesentlichen die gleichen. Die öffentlichen Ausgaben für das gesamte System Schiene konnten nicht gesenkt werden. Die Service-Qualität im Schienenverkehr ist – gemessen an objektiven und subjektiven Kriterien wie Pünktlichkeit, Sauberkeit und Kundenzufriedenheit – unzureichend bis miserabel. Die Deutsche Bahn AG rangiert im Firmenranking unter den großen deutschen Unternehmen am unteren Ende.
 

3.    Marode Infrastruktur

Nirgendwo wird das Scheitern der Bahnreform deutlicher als bei einer „Begehung“ der Schienen-Infrastruktur. Seit 1994 wurden abgebaut: knapp ein Fünftel des Schienennetzes, 40 Prozent der Bahnhöfe, die Hälfte aller Weichen und 80 Prozent der Gleisanschlüsse, die Unternehmen direkt an das Bahnnetz anbinden (siehe Tabelle zur Struktur-Entwicklung). Das Schienennetz wurde also in einer Zeit eines massiven Ausbaus des Autobahnnetzes nicht nur deutlich abgebaut, sondern es wurde nochmals stärker in seiner Leistungsfähigkeit reduziert.
Jetzt ließe sich auf ein „klein, aber fein“ hoffen, also darauf, dass sich zumindest das verbliebene Schienennetz in einem guten Zustand befindet. Das trifft jedoch nicht zu. Tatsächlich nimmt der „Modernitätsgrad“ des Schienennetzes nach offiziellen Angaben seit 2004 ab. Die Zahl der (ausgewiesenen und in den Fahrplan eingearbeiteten) Langsamfahrstellen wächst. Tausende Brücken befinden sich in einem kritischen Zustand. All dies ist nicht primär Ergebnis knapper Finanzen, denn die öffentlichen Investitionen in das Schienennetz befinden sich, im nationalen Vergleich, auf einem hohen Niveau. Der marode Zustand des Netzes ist, wie der Bundesrechnungshof wiederholt dokumentierte, zu einem großen Teil Resultat eines unzureichenden und unverantwortlichen Umgangs der Deutschen Bahn bzw. deren Tochter DB Netz mit den zur Verfügung gestellten öffentlichen Mitteln.

4.    Falsche Schwerpunktsetzung: Hochgeschwindigkeitsverkehr

Die Bahnreform war verbunden mit einer verstärkten Konzentration auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr. 75 Prozent der Infrastrukturinvestitionen flossen in Hochgeschwindigkeitsstrecken und Großprojekte. Die beliebte und erfolgreiche Zuggattung InterRegio wurde per Fahrplan systematisch ins Abseits gefahren und dann 2002 ganz abgeschafft. Damit wird die Grundstruktur des Schienenverkehrs geleugnet: 95 Prozent des Schienenverkehrsaufkommen (= die Zahl der Fahrten) findet im Nahverkehr – im Bereich unter 50 Kilometer – statt. 54 Prozent der Verkehrsleistungen (= die Summe der zurückgelegten Kilometer) sind Nahverkehre. Selbst im reinen Fernverkehr (ICE, IC/EC und Nachtzüge) liegt die durchschnittliche Reiseweite nur bei rund 250 Kilometern. In der Entwicklung der letzten 20 Jahre hat sich diese Struktur nochmals verstärkt: Nur der Anteil des Nahverkehrs konnte gesteigert werden. Im Fernverkehr ging der Marktanteil der Schiene hingegen deutlich zurück. Bei Städteverbindungen mit guter ICE-Verbindung (wie Berlin – Köln) wuchs der Binnenflugverkehr deutlich, während der Schienenverkehr stagniert. Die Konzentration auf Hochgeschwindigkeit und die Verkürzung großer Reisedistanzen um wenige Minuten ist marktfern und muss als Fehlallokation von Milliarden Euro Steuergeldern bezeichnet werden.

5.    Die begrüßenswerten Erfolge im Nahverkehr haben wenig mit der Bahnreform und nichts mit „Wettbewerb“ zu tun.

Die eindeutig positive Entwicklung seit 1994 besteht in der deutlichen Steigerung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) insbesondere in Westdeutschland. Für diesen Anstieg gibt es im Wesentlichen drei Gründe: (1) Die Gelder, mit denen der Bund den Nahverkehr bezuschusst, wurden erheblich erhöht. (2) Mit der Regionalisierung wurde eine dezentrale, deutlich bürger- und fahrgastnähere Struktur gefunden. (3) In der Bahntechnik lösten die massiv gestiegenen Investitionen in das rollende Material im Nahverkehr einen Innovationsschub aus. Die Behauptung, dieser Erfolg sei „Resultat des Wettbewerbs“ und zugleich ein solcher „der Bahnreform“, trifft nicht zu. Wettbewerb als solchen gibt es im SPNV nicht. Und der Wettbewerb bei den Ausschreibungen erweist sich zunehmend als äußerst problematisch (siehe auch These 7). Beispiele mit erfolgreichem und dezentralem Nahverkehr gab es auch vor der Bahnreform und weitgehend unabhängig von derselben – siehe die Beispiele Karlsruhe und Region und Gaisbockbahn in Oberschwaben. Dabei ist beispielsweise in Oberschwaben zu befürchten, dass der „Wettbewerb“ mit der anstehenden Ausschreibung von den bislang erzielten Erfolgen wieder viel gefährden könnten (wie andernorts, z.B. bei der Kasseler Regiotram, bereits erfolgt).

6.    Der Systemvorteil Sicherheit wird gefährdet

Der Schienenverkehr ist mit Abstand die sicherste Form motorisierter Mobilität. Die Unternehmenspolitik der Deutschen Bahn AG, gepaart mit der begleitenden Verkehrspolitik der Bundesregierung, gefährden diesen Standortvorteil der Schiene jedoch systematisch. Beispielhaft sind dafür die drei schweren Eisenbahnunfälle in Neustadt bei Marburg/L. 1997 (6 Tote), die Eisenbahnkatastrophe von Eschede im Jahr 1998 (101 Tote) und das Schienenverkehrsunglück von Hordorf 2011 (10 Tote). In allen drei Fällen liegen die Unfallursachen letzten Endes in einer Nichtberücksichtigung elementarer Sicherheitsstandards durch Kosteneinsparungen.*  Der hochgradig fahrlässige Einbau von Achsen im ICE 3 und im ICE TD, die aus einem sogenannten hochfesten, zu wenig erprobten Stahl bestehen und deutlich geringer dimensioniert sind als die Achsen vergleichbarer Hochgeschwindigkeitszüge in Frankreich, Spanien, Russland oder China, setzt die Politik der Unterminierung der Schienenverkehrssicherheit fort. Trotz gefährlicher Achsbrüche 2002 in Gutenfürst (bei einem ICE TD) und 2008 in Köln (bei einem ICE 3) war die Deutsche Bahn AG bis Anfang 2014 nicht in der Lage, diese Achsen auszuwechseln. Stattdessen leistet sie sich die – durch die Eisenbahnaufsicht EBA zu Recht verlangten – extrem aufwendige Ultraschallwellenprüfungen mit Kurzzeitintervallen.
* Neustadt: Keine aufgerichteten Rungen (niederlegbare Stahlarme an den Längsseiten der Waggons); die Stahlrohe auf den Güterwaggons waren nur mit Plastikbändern und Holzkeilen gesichert. Die Rohre lösten sich und schlitzten einen entgegenkommenden Nahverkehrszug auf. Eschede: Der Ersatz von Monobloc-Rädern durch gummigefederte Räder, obgleich diese nicht im Hochgeschwindigkeitsverkehr erprobt und in keinem anderen Land eingesetzt (und nach Eschede in Deutschland nicht mehr verwandt) werden. Hordorf: 20 Jahre lang wurde auf der eingleisigen Verbindung, auf der ein Güterzug und ein Nahverkehrszug zusammenprallten, versäumt, das Sicherungssystem PZB, das den Unfall verhindert hätte, einzubauen.

7.    Der Umgang der DB AG mit den Bahnbeschäftigten ist ein Skandal.

Seit der Bahnreform 1994 gab es faktisch eine Halbierung der Anzahl der Beschäftigten im deutschen Schienenverkehr – von 350.000 auf 175.000. Im gleichen Zeitraum wurden die rein technischen Leistungen im Schienenverkehr deutlich erhöht. Der Beschäftigtenabbau kann nur teilweise mit Rationalisierungen erklärt werden. Es handelt sich dabei vor allem um einen  massiven Abbau von Personal im Servicebereich, auf den Bahnhöfen, bei Reparatur, Reinigung und Instandhaltung und in sicherheitsrelevanten Segmenten. Dies mündete im August 2013 darin, dass der Eisenbahnknoten Mainz für gut drei Wochen weitgehend vom Schienenpersonenfernverkehr abgekoppelt war. Wobei die Formel „Mainz ist überall“ ihre Berechtigung hat.
Gleichzeitig wurde die Arbeit der Noch-Beschäftigten schleichend entwertet und immens verdichtet. Die Bahnbeschäftigten schieben einen immer größeren Berg von Überstunden vor sich her: Im Juni 2012 waren es 7,3 Millionen Überstunden, im Juni 2013 bereits 8,1 Millionen. Der „Wettbewerb“ im Nahverkehr reduziert sich im Wesentlichen auf einen Wettbewerb beim Sozialdumping: weniger Löhne, weniger Leute, geringere Qualifikation.

8.    Die Bilanzen der DB AG sind Kartenhäuser; die ausgewiesenen Gewinne fiktiv.

Seit der Eröffnungsbilanz der Deutschen Bahn AG im Januar 1994 und bis zum heutigen Tag betreibt der Bahnkonzern Bilanzkosmetik auf hohem Niveau. Zwischen dem 31. 12. 1993 und dem 1. 1. 1994 wurde das Anlagevermögen um zwei Drittel reduziert. Im Zeitraum 1994 bis Anfang 2014 wurden mindestens 50 Milliarden Euro an Infrastrukturinvestitionen, die von der öffentlichen Hand finanziert wurden, nicht bilanziert. Die drei logischen Folgen: (1) Es gibt extrem niedrige Abschreibungen. (2) Es gibt hohe Gewinne der DB-Holding (3) Es gibt keine Rücklagen für die Zeit, in denen die von der öffentlichen Hand finanzierten Neubaustrecken grundlegend saniert oder gar erneuert werden müssen. Und es spricht wenig dafür, dass die öffentliche Hand dann diese Strecken ein zweites Mal finanzieren wird (Stichwort: Schuldenbremse). Absurd ist, wenn die Segmente Nahverkehr (DB Regio) und Infrastruktur (DB Netz und Station & Service) inzwischen zwei Drittel des gesamten Gewinns der DB Holding – 2012: 2,7 Milliarden Euro – beisteuern, während zugleich allein in diese beiden Bereiche mehr als 7,5 Milliarden Euro an öffentliche Mittel fließen.

9.    Die Global-Player-Politik der Deutschen Bahn ist fatal. Mit ihr werden Milliarden an Steuergeldern zweckentfremdet eingesetzt.

Wenn jemand 1994 gesagt hätte, Ziel der Bahnreform sei, dass die neu gebildete Deutsche Bahn AG möglichst schnell die Hälfte des Umsatzes in Nicht-Eisenbahn-Geschäftsfeldern und zugleich die Hälfte des Umsatzes außerhalb Deutschland realisiert, dann wäre dies auf uneingeschränkte Ablehnung gestoßen. In Bälde dürfte es jedoch genau so sein: Die DB AG setzte 2012 bereits 41 Prozent ihres Umsatzes in den Bereichen Straßenverkehr, Logistik, Schiffsverkehre und Luftfracht um. Der Auslandsumsatz betrug im gleichen Jahr bereits 42 Prozent des gesamten Umsatzes. Wohlgemerkt: 1994 wurde der DB-AG-Umsatz zu 98 Prozent im Inland und zu 95 Prozent im Eisenbahnbereich realisiert.
Die Orientierung der DB AG auf bahnfremde Bereiche und in Auslandsengagements hat nichts mit Profitmaximierung zu tun: die Nicht-Bahn-Bereiche und das Auslandsgeschäft sind entweder defizitär oder sie haben eine Rendite, die niedriger ist als eine Verzinsung als Festgeld.
Mit den Auslandsengagements und den Umsätzen in bahnfremden Bereiche ist eine tiefgreifende Transformation des Unternehmens Bahn verbunden. Seit einem Jahrzehnt gibt es kein einziges Vorstandsmitglied der DB AG, das jemals mit Eisenbahn zu tun hatte. Seit sieben Jahren besteht die Hälfte der DB-AG-Aufsichtsratsmitglieder, die offiziell die Kapitalseite, also den Bund, vertreten, aus Personen, deren Interessen im Widerspruch zu denen der Eisenbahn in Deutschland stehen.

10.    Die Bahnreform zielte von Anfang an auf Börsengang und Bahnprivatisierung. Dieses Ziel könnte bald auch von der neuen Großen Koalition verfolgt werden.

Seit der Ablösung von Hartmut Mehdorn an der Spitze der Bahn wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, als sei der – 2008 gescheiterte – Börsengang der Bahn eine Marotte dieses Bahnchefs gewesen. In Wirklichkeit war bereits die Einstellung von Heinz Dürr als Bundesbahnchef im Jahr 1990 unter Bundeskanzler Helmut Kohl ausdrücklich mit der Zusage verknüpft, die Bahn werde privatisiert. Seither haben alle Bahnchefs am Ziel Bahnbörsengang festgehalten. Rüdiger Grube äußerte noch im November 2009: „Der Zeitpunkt für eine Privatisierung wird wieder kommen, gar keine Frage.“ Und im neuen Koalitionsvertrag heißt es nur: „Wir stehen zum integrierten Konzern DB AG. Die Eisenbahninfrastruktur (…) bleibt in der Hand des Bundes.“ Womit die aktuell entscheidende Form der Bahnprivatisierung, diejenige des Eisenbahnbetriebs – zusammengefasst in der Subholding DB Mobility Logistics (DB ML) – explizit offen gehalten wurde.

11.    Die DB AG agiert längst wie ein privatwirtschaftlicher Konzern. Die Unternehmensform der Aktiengesellschaft erweist sich als kontraproduktiv.


Der aktuelle Fall Ronald Pofalla ist nur das Tüpfelchen auf dem i, womit verdeutlicht wurde: Bei der DB AG wedelt der Schwanz mit dem Hund. Wie kann der Angestellte der Bundesregierung, Rüdiger Grube, entscheiden, für den Ex-Minister der Bundesregierung ein Vorstandspöstchen neu einzurichten? Und überhaupt: Warum soll ein Unternehmen, das sich zu hundert Prozent in öffentlichem Eigentum befindet, eine Vorstandsposition haben, die ausschließlich der Kontaktpflege zum Eigentümer dient? Tatsächlich agiert die Deutsche Bahn AG längst absolut intransparent und losgelöst von öffentlichen Interessen. Das heißt jedoch nicht, dass sie außer Kontrolle geraten wäre oder gar der jeweiligen Regierung auf der Nase herumtanzen würde. Mitnichten. Dieses Bild wird vielmehr bewusst gezeichnet, um zu verschleiern, dass die Deutsche Bahn AG sehr wohl von außen gesteuert wird – allerdings von der Top-Etage der Bundesregierung, die wiederum maßgeblich von den Interessen der großen Konzerne und Banken bestimmt wird.

12.    Nach 20 Jahren mit negativer Bahnreform-Erfahrung ist ein Neuanfang erforderlich. Die Elemente einer Alternative können skizziert werden.

Die Bahnreform liefert nicht nur Anschauungsmaterial für Kritik, sondern auch solches für eine Alternative. Diese könnte die folgenden Strukturelemente haben.
  1. Notwendig ist eine allgemeine Verkehrswende: Beendigung der Bevorzugung von Straße und Luftfahrt, systematische Förderung des Fußgänger- und Fahrradverkehrs, des öffentlichen und insbesondere des schienengebundenen Verkehrs.
  2. Notwendig ist eine gemeinwirtschaftliche Orientierung des Nachfolgeunternehmens der Deutschen Bahn AG. Dazu eignet sich am besten die Unternehmensform der Anstalt öffentlichen Rechts – mit entsprechend gut verankerter Beteiligung von Umweltgruppen und fortschrittlichen Verkehrs- und Fahrgastverbänden im Verwaltungsrat.
  3. Sinnvoll ist eine Gesamtstruktur des Eisenbahnsektors, bei der einerseits das öffentliche Eigentum dominiert, bei der es jedoch andererseits ein Maximum an dezentralen Strukturen gibt (Kreisbahnen, Landesbahnen). Die Zentralisierung wird auf das Notwendigste beschränkt. Vorbild ist die Eisenbahn in der Schweiz mit ihrer Verschränkung von Bundesbahnen (SBB) und kantonalen Bahnen.
  4. Notwendig ist die Verpflichtung auf die Ziele: Anbindung des ganzen Landes an den Bahnverkehr; ein zuverlässiger und sicherer Betrieb; Schluss mit Streckenstilllegungen und stattdessen umfangreiche Strecken-Reaktivierungen.
  5. Die DB AG-Engagements im Ausland werden (bis auf solche, die rein grenzüberschrei-tenden Charakter haben) verkauft. Der Erlös – rund 10 Milliarden Euro – wird zur Grundsanierung des Schienennetzes und zur Beseitigung tatsächlich bestehender Kapazitätsengpässe eingesetzt.
  6. Der Schienenverkehr in Deutschland wird im kommenden Jahrzehnt komplett elektrifiziert. Gleichzeitig wird der Bahnstrom zu 100 Prozent auf regenerative Basis (Wasser, Wind- und Solarstrom) umgestellt.
  7. Aufhebung des „Flickenteppichs“ aus Tarifen und Beförderungsbedingungen, den die Regionalisierung des Bahnverkehrs geschaffen hat. Stattdessen gibt es einen einheitlichen „Deutschlandtarif“ – verbunden mit einem „Deutschlandtakt“.
  8. Wiedereinführung des InterRegio. Ziel ist die Flächenbahn.
  9. Massive Senkung des Fahrpreisniveaus; engagierter Beitrag der Bahn, um im Nahverkehr Nulltarif-Systeme zu etablieren; Aufbau und Ausbau von Mobilitätskarten (BC50, BC100).
  10. Aufbau eines europaweiten Systems von Nachtzugverbindungen mit dem Ziel, den innereuropäischen Flugverkehr drastisch zu reduzieren.
  11. Massive Aufstockung des Bahnpersonals im Sinne von „guter Arbeit“, um eine hohe Qualität des Bahnverkehrs sicherzustellen. Wieder-Besetzung der Bahnhöfe mit Personal, Wiedereröffnung von personenbedienten Reisezentren, Einstellung von ausreichend Personal u.a. zur Vermeidung sicherheitsrelevanter Personalengpässe.
  12. Grundsätzliche Barrierefreiheit im Schienenverkehr, insbesondere barrierefreie Bahnhöfe.
  13. Das Top-Personal der Bahn besteht aus Menschen, die etwas von Bahnverkehr verstehen und die mit Kopf, Herz und Leidenschaft für den Schienenverkehr eintreten.

Redaktion: Winfried Wolf




Strukturdaten Deutsche Bahn AG 1991-2012

 

1991

1994

2002

2012

Entwicklung in %

2012 geg. 1991

2012 geg. 1994

Fahrgäste in Mio

1427

1509

1973

2035

+42,6%

+34,8 %

davon:

Fernverkehr

130

126

141

131

+0,8%

+ 3,9 %

Nahverkehr

1286

1382

1529

1840

+43,1%

33,1 %

Anteil Schiene Verkehrs-markt (modal split)*

6,6 %

6,6 %

6,6 %

7,5 %

+0,9

%-Punkte

+ 0,9

%-Punkte

Streckennetz in km**

41.100

41.300

35.755

33.505

-18,5%

- 18,5 %

Gleislänge in km

90.000

78.073

65.005

61.745

-31,4%

- 20,2 %

Weichen

156.568

131.968

85.999

70.630

-54,9%

- 46,5 %

Gleisanschlüsse

13.185

11.742

4.336

2.374

-82%

- 79,8 %

Personen-Bahnhöfe

6.500

6.400

5580

3.272

-49,6%

- 40,7 %

Sitzplätze

1.376.000

1.146.752

1.512.000

1.296.552

-5,8%

+ 13 %

Beschäftigte Bereich Schiene

456.388

342.852

210.000

163.986

-64,1%

- 52,2 %

Öffentliche Mittel  f.

System Schiene gesamt

Mio. Euro***

10.329

16.525

17.813

16.734

+62,0%

+1,3%

 

Bezüge Bahnchef

In Tsd. Euro

150

300

2.400

3.100

+1967 %

+ 1033%

Bezüge Vorstand u. Aufsichtsrat;

In Tsd. Euro****

1500

3200

6.691

15.683

+947%

+ 490 %

Geschäftsbericht Seitenzahl

70

82

290

530*****

+657%

+ 646 %

*              Modal Split auf Basis der Verkehrsleistung (Personen-km) und für
                den gesamten Schienenverkehr
**            Betriebslänge des Schienennetzes; ab 1994 = im Bestand DB AG
***          Ohne Altschulden Bundesbahn/Reichsbahn-Verzinsung
****        DB AG, 2012 einschl. DB ML AG
*****      Geschäftsberichte DB AG u. DB ML AG (ohne DB Regio, DB Netz u.a.)

Quellen für die Daten: Die jeweiligen statistischen Hefte Daten und Fakten von Bundesbahn bzw. Deutsche Bahn AG; unterschiedliche Ausgaben von Verkehr in Zahlen; Antworten der Bundesregierungen auf Anfragen von FDP (2005) und LINKE (2013) zur Entwicklung der Finanzierung der Schiene(DS 16/2243und DS 18/0049).
Zusammenstellung und Berechnungen: Winfried Wolf.