Kontroverse um Wettbewerb im Schienenverkehr
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- 18 August 2010
- von Sabine Leidig
Nach ihrer ersten Bundestagsrede vom 11. November 2009 erreichte Sabine Leidig
ein Brief aus dem Saarland. In ihm wurden eine Reihe von Aussagen, die S. Leidig in ihrer Rede im Rahmen der Regierungserklärung gemacht hatte, in Frage gestellt.
Ein Briefwechsel
Wir dokumentieren den Brief und die Antwort von Sabine Leidig.
19. November 2009 Brief von Uwe P., Saarland
Sehr geehrte Frau Leidig,
ich möchte voraus schicken, dass ich die LINKE gewählt habe. Gerade wegen der besonnenen und sachlich und fachlich fundierten Verkehrspolitik der vergangenen Jahre. Nun bin ich über die LINKE entsetzt. In Ihrer Rede vom 11.11.09 behaupten Sie, die Regierung plane einen mehrfachen Angriff auf den öffentlichen Schienenverkehr. Wie bitte? Und weiter, dass erstens private Unternehmen im Nahverkehr Vorrang vor kommunalen Eigenbetrieben bekommen sollen? Ist es nicht doch so, dass die Länder und nicht der Bund festlegen, wem Sie mit der Durchführung des Schienen-Personen-Nahverkehrs beauftragen. Das ist oft die DB AG, in vielen Fällen aber auch andere NE-Bahnen. Diese sind jedoch sehr oft in Landes- oder Kommunalbesitz und somit kommunale Eigenbetriebe. Aus dem Koalitionsvertrag geht nicht hervor, dass nur noch private Bahnen SPNV betreiben dürfen und keine öffentliche Bahnen mehr. Das gibt auch die Gesetzgebung auf Bundesebene und EU-Ebene nicht her. Woher nahmen Sie ihre offenbar DKP-ideologisch motivierte, aber falsche Behauptung? Gern stimme ich Ihnen zu, dass Buslinienverkehre als Konkurrenz zur Bahn abzulehnen sind. Aber da nun ab 2010 es Wettbewerb im Fernverkehr auf Schienen geben wird, wird man kaum den Busverkehr mehr verbieten können.
Und im Übrigen gibt es entgegen Ihrer Ansicht einen Ausbauplan für Schienenwege und Güterverkehr: Es nennt sich Bundesverkehrswegeplan und Masterplan
Güterverkehr.
Sie sagen weiter, man braucht keinen Wettbewerb auf Schienen. Ist Ihnen denn nicht bewusst, dass gerade der Ausschreibungswettbewerb ein Plus von 50 Prozent an Zügen und damit 40 Prozent mehr Fahrgäste seit 1996 gebracht hat? Statt jede Stunde wie vor der Bahnreform fahren bei mir im Saarland die Nahverkehrszüge alle 15 Minuten. Nur der Wettbewerb bringt bessere und mehr Verkehre. Das ist die Lehre aus der erfolgreichen Regionalisierung des SPNV. Wieso nehmen Sie das nicht zur Kenntnis?
Viele Grüße
Uwe P.
Antwort von Sabine Leidig vom 7.1.2010
Sehr geehrter Herr Uwe P.,
Ihre Mail vom 19.11. in Sachen Verkehrspolitik kann ich leider erst jetzt beantworten. Die Gründe sind vielfältig – so haben wir erst seit Anfang 2010 ein funktionsfähiges Abgeordneten-Büro zugewiesen bekommen. Die Bundestagsverwaltung hat offensichtlich nicht mit einem derart großen Erfolg der Linken – offensichtlich auch dank Ihrer Stimme – gerechnet.
Wenn ich es richtig sehe, geht es um die folgenden
vier Komplexe:
- Gibt es für die Koalition einen Vorrang für private Anbieter im ÖPNV/SPNV?
- Allgemein: Ist Wettbewerb auf Schienen nicht sinnvoll?
- Unsere Haltung zum Bus-Linienverkehr
- Bundesverkehrswegeplan
Ich versuche, das wie angefragt abzuarbeiten.
Generell sei vorangestellt, dass ich in meiner Rede die genannten Themen unter den Aspekt stellte: "Die Regierung plant einen mehrfachen Angriff auf den öffentlichen Schienenverkehr". Das heißt, dass für die neue Bundesregierung private Betreiber Vorrang vor öffentlichen haben und dass der weiteren Privatisierung von bisher noch in öffentlichem Eigentum befindlichen Verkehrsunternehmen das Wort geredet wird. Das sehe ich im Koalitionsvertrag und in der bisherigen Politik der neuen Regierung durchaus bestätigt.
"Vorrang privater Anbieter" und allgemein zu "Wettbewerb auf Schienen"
Sie schreiben: "Aus dem Koalitionsvertrag geht nicht hervor, dass nur noch private Bahnen SPNV betreiben dürfen und keine öffentlichen Bahnen mehr".
Das habe ich nicht gesagt. Vielmehr sagte ich in der zitierten Rede: "Private Unternehmen sollen im Nahverkehr Vorrang vor kommunalen Eigenbetrieben bekommen." Es geht hier offenkundig um den ÖPNV.
Ziemlich genau so steht es im Koalitionsvertrag: "Wir werden (...) den Vorrang kommerzieller Verkehre gewährleisten". Damit wird unmissverständlich für die Priorisierung von Privaten im ÖPNV argumentiert.
Zum Schienenpersonennahverkehr und zum Schienenverkehr
allgemein heißt es im Koalitionsvertrag: "Für regionale Schienenstrecken werden wir neue Betreibermodelle erproben, um den Ländern und Aufgabenträgern Einfluss etwa auf Modernisierung und Regionalisierung zu geben. (...) Wir setzen uns auf europäischer Ebene für eine vollständige Öffnung der Eisenbahnmärkte ein."
Schließlich: Sobald der Kapitalmarkt dies zulässt, werden wir eine schrittweise, ertragsoptimierte Privatisierung der Transport- und Logistiksparten (der Deutschen Bahn AG; S.L.) einleiten. Auch diese Passagen laufen auf die Bevorzugung privater Betreiber hinaus. Insbesondere soll der Nah, Fern- und Güterverkehr der DB AG selbst – alle diejenigen Bahntöchter, die in der DB Subholding DB ML zusammengefasst sind - zunächst teilprivatisiert, letzten Endes aber privatisiert
werden.
Sie argumentieren: "Nur Wettbewerb bringt bessere und mehr Verkehre. Das ist die Lehre aus der erfolgreichen Regionalisierung des SPNV." Dem ersten Satz kann ich nicht zustimmen. Der zweite ist zu relativieren.
Zunächst gibt es auf einem Schienennetz keinen Wettbewerb oder höchstens einen begrenzten. Den Wettbewerb gibt es bei den Ausschreibungen. Danach bekommen die Betreiber quasi Gebiets- oder Strecken-Monopole – gleichgültig, ob es sich um private Unternehmen oder in öffentlichem Eigentum befindliche handelt. Da hier - mit guten Gründen – viele Parameter (wie Taktverkehr, Sitzplatzzahl, Qualität des Angebots) festgeschrieben sind, läuft es meist darauf hinaus, wer mit niedrigeren Löhnen und Gehältern und/oder mit weniger Personal eine Strecke betreibt. So etwas nenne ich Lohn- und Sozialdumping. Das ist grundsätzlich kritisch zu sehen. Auf die Dauer wirkt sich das auch negativ auf die erbrachten Leistungen aus. Das britische Beispiel, wo diese Prinzipien des "Wettbewerbs" ja am weitesten vorangetrieben und am längsten praktiziert werden, ist hier äußerst lehrreich.
"Regionalisierung" an sich kann sehr sinnvoll sein, wenn damit gemeint ist: Dezentralisierung. Je dezentraler Leistungen angeboten werden, desto besser – soweit dabei die notwendigen Kriterien für den Erhalt des Netzcharakters des Schienenverkehrs (z.B. Gültigkeit von allgemeinen Fahrkarten wie BC50; Einpassen in einen sinnvollen überregionalen Fahrplan) eingehalten werden.
Insofern war die Regionalisierung, die 1994 mit der Bahnreform eingeleitet wurde, eine sinnvolle Angelegenheit. Die Steigerung der Fahrgastzahlen – wir kommen beim Personenaufkommen (Zahl der Fahrgäste) auf plus 38 Prozent und bei der entscheidenden Verkehrsleistung auf plus 28 Prozent - hängt es teilweise damit zusammen.
Diese Erfolge wurde vor allem aber durch die Regionalisierungsmittel erreicht. Die staatlichen Unterstützungszahlungen für den SPNV wurden im Vergleich zu vor 1995 um gut 50 Prozent erhöht. Vor allem aus diesem Grund – wegen ihrer passablen bis guten Ausstattung mit Bundesmitteln - können die Länder inzwischen deutlich mehr SPNV bestellen und bezahlen.
Wettbewerb oder gar Privatisierung sind hier in keiner Weise für den Erfolg mitverantwortlich. Dazu zwei Beispiele: Im Karlsruher Raum und auf Usedom gibt es seit Beginn der Regionalisierung immer nur jeweils einen Anbieter: in Karlsruhe die Karlsruher Verkehrsbetriebe – ein in städtischem Eigentum befindlicher kommunaler Betrieb - und auf Usedom die Usedomer Bäder-Bahn, eine zu 100 Prozent im Eigentum der Deutschen Bahn AG befindliche GmbH-Tochter. In beiden Regionen gilt der SPNV als bundesweit vorbildlich – mit jeweils einer Vervielfachung der Fahrgastzahlen seit 1996 (Usedom: mehr als eine Verzehnfachung). Es gab – bisher – keinen Wettbewerb, es gibt Null privates Kapital. Aber maximalen Erfolg. Die Gründe dafür sind die genannten Regionalisierungsmitttel und spezifische Faktoren vor Ort, u. a. in beiden Fällen eine sehr lange Zeit eine überragende führende Persönlichkeit an der Spitze des jeweiligen Unternehmens, bei der sich Sachverstand mit Leidenschaft paart(e).
Generell bevorzuge ich und bevorzugt die Linke im öffentlichen Verkehr im allgemeinen und im Schienenverkehr im besonderen das öffentliche Eigentum; wir lehnen Privatisierungen vor allem in diesem Bereich grundsätzlich ab. Dies weil
- öffentliches Eigentum zumindest die Chance auf öffentliche Bestimmung bietet (wenn das – wie bei der Deutschen Bahn AG - nicht wahrgenommen wird, ist es allein die Entscheidung der Politik, so – falsch – zu verfahren)
- öffentliches Eigentum die Möglichkeit wahrt, den Verkehr als öffentliches Gut mit Netzcharakter und ganzheitlichem Charakter anzubieten
- privates Kapital immer eine "angemessene Verzinsung" des eingesetzten Kapitals als Profite für die privaten Eigentümer voraussetzt, Summen, die dann für die eigentliche Dienstleistung nicht mehr zur Verfügung stehen.
Sie meinen, ich würde solche Positionen vertreten, weil ich "DKP-ideologisch motiviert" sei. Das ist unrichtig. Einmal abgesehen davon, dass das öffentliche
Eigentum an großen Gütern und in der Daseinsvorsorge auch Grundbestandteil sozialistischer Positionen ist, kann man zu vergleichbaren Auffassungen auch aus reiner Sachlogik gelangen. Die Schweizerischen Bundesbahnen und so gut wie alle öffentlichen Verkehrsbetriebe in der Schweiz dürften wenig mit KP-Ideologie zu tun haben – doch sie befinden sich komplett in öffentlichem Eigentum – allerdings erfreulicherweise weit mehr in dezentralem (kantonalem, kommunalem) öffentlichen Eigentum als in zentralem, was selbst für die SBB gilt. Das ist sicher eine Grundvoraussetzung dafür, dass dort der öffentliche Verkehr als europaweit vorbildlich gilt.
Busfernlinien
Bisher verhindert §13 des Personenbeförderungs-Gesetzes eine Zulassung von Bus-Fernlinien. Daher will die Koalition ja explizit diesen Paragrafen – also geltendes Recht - ändern.
Klar ist, dass ein flächendeckendes Busfernlinien-Netz Fahrten im Stadt-zu-Stadt-Verkehr Fahrkarten auf einem Preisniveau anbieten können wird, das bei der Hälfte der aktuellen Bahntarife – und noch darunter - liegt. Die aktuelle Verkehrsmarktordnung, bei der die Busse so gut wie gar nicht für eine Finanzierung der Infrastruktur herangezogen werden, ermöglicht dies. Das würde zu einem ruinösen Wettbewerb Busse-Schiene führen und den bereits ruinösen Wettbewerb auf Verbindungen mit größeren Entfernungen zwischen Schiene und Billig-Flieger fatal ergänzen. Am Ende muss unter diesen Bedingungen die Schiene den Kürzeren ziehen – es käme zu einem flächendeckenden Abbau der Schienenverkehrsangebote.
Inwieweit EU-Recht solche Busfernlinien erzwingen wird, sei dahin gestellt. Schließlich sagt doch die Koalition offensiv, dass sie derartiges will – ganz unabhängig vom EU-Recht.
Unsere Erfahrung ist: Wenn die Bundesregierung als Vertreterin des mächtigsten EU-Mitgliedslandes sich auf EU-Ebene für eine Sache engagiert, dann gibt es große Möglichkeiten, dies auch durchzusetzen. Dies gilt ganz besonders da, wo zugleich die Mehrheit der Bevölkerung solches fordert. Das trifft eindeutig für das öffentliche Eigentum im öffentlichen Verkehrssektor im allgemeinen und im Schienenverkehr im besonderen zu. Es ist aber so, dass die Bundesregierung gerade auf EU-Ebene auf Deregulierung, Liberalisierung, Lohn- und Sozialdumping und Privatisierung drängt. Und dann gerne mit dem Zeigefinger nach Brüssel weist und behauptet, das EU-Recht sehe dies und das vor. Doch in Wirklichkeit geht es um private Interessen hierzulande, die damit mit bedient werden. Es ist ja auch kein Zufall, dass all die oben zitierten Privatisioerungsforderungen aus dem Koalitionsvertrag vor allem ein Herzensanliegen der FDP waren und vor allem als Zugeständnis an die FDP in dieses Dokument hineingeschrieben wurden. Damit soll keinerlei Verantwortung von CDU/CSU genommen, aber doch auf eine wichtige gelbe Hausnummer hingewiesen werden.
Bundesverkehrswegeplan
Der Bundesverkehrswegeplan mündete seit mehr als einem Vierteljahrhundert darin, dass das Straßennetz massiv ausgebaut wurde und wird und das Schienennetz de facto massiv abgebaut und geschwächt wird. Allein seit 1995 wurden 7.000 km des Schienennetz abgebaut. Qualitativ ist es noch weit mehr, weil im gleichen Zeitraum fast 50 Prozent aller Weichen aus dem Netz genommen wurden.
Der "Masterplan" Güterverkehr – wohl: Schienengüterverkehr – sieht den massiven Anstieg der Schienengüterverkehrsleistungen (um bis zu 70 Prozent) vor. Allerdings orientiert er vor allem auf Schienenverkehre auf immer längeren Distanzen. Gleichzeitig wurde der regionale Schienengüterverkehr extrem abgebaut. Allein im Zeitraum 1995 bis 2008 wurde die Zahl der Gleisanschlüsse (Industriegleise) von 14.000 auf weniger als 4.000 reduziert.
Grundsätzlich kann ich also in der Existenz eines Bundesverkehrswegeplans und in dessen Konkretisierungen für den Schienenbereich keine Garantie dafür sehen, dass es mit der Schiene aufwärts gehen würde.
Die Praxis der letzten Jahrzehnte und die konkreten, eingangs zitierten Festlegungen im Koalitionsvertrag weisen in die entgegengesetzte Richtung.
Ebenfalls viele Grüße sendet und nachträglich alles
Gute im Jahr 2010 wünscht:
Sabine Leidig