Bahnsinniges Baden-Württemberg
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- 27 Januar 2011
- von Dominik Fette
Stuttgart 21 muss verhindert werden, damit die Bahn für alle besser werden kann. Dieses zerstörerische Projekt würde für mehr als ein Jahrzehnt einen erheblichen Teil aller Schieneninvestitionen für Baden-Württemberg binden. Wir wollen kleckern statt klotzen: Auf dieser Seite stellen wir unser Konzept für ein Bahnsinniges Baden-Württemberg vor – mit drei Grundlinien und 15 einzelnen Schienenprojekten. Mit dabei: Unsere Alternativen für Stuttgart und für die Verbindung nach Ulm.14 Milliarden Euro wird Stuttgart 21 mit der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm realistischerweise verschlingen. Wir zeigen, wie man mit der gleichen Summe dafür sorgen kann, dass die Bahn für alle im Land spürbar verbessert wird.
Kurzfassung (4-seitig, mit Streckenkarten, PDF, 832KB) Langfassung (12-seitig, PDF, 384KB)
Langfassung des Konzepts Bahnsinniges Baden-Württemberg:
Programm zum Ausbau des Schienennetzes und des Bahnverkehrs in Baden-Württemberg
- Alternative zu Stuttgart 21 und zur Neubaustrecke über die Schwäbische Alb
von Winfried Wolf
I Allgemein
Die Debatte um Stuttgart 21 wurde vielfach konzentriert auf das Projekt des Tiefbahnhofs geführt – möglicherweise noch ergänzt um die Neubaustrecke (NBS) Wendlingen – Ulm. Aus bundespolitischer Sicht gab es Kritik an S21 und der NBS – so im Fall der Studie des Umweltbundesamtes vom Sommer 2010. In dieser wurden S21 und die NBS als „unwirtschaftlich“ und deshalb kritisiert, weil durch diese Projekte wichtige und sinnvolle Schienenausbauprojekte – auch solche in anderen Bundesländern – nicht realisiert werden könnten.
Tatsächlich werden die Projekte S21 und NBS vor allem in Baden-Württemberg dazu führen, dass wichtige Schienenprojekte nicht umgesetzt werden. S21 und die Neubaustrecke werden schließlich in erheblichem Maß durch Mittel des Landes Baden-Württemberg oder der Stadt Stuttgart oder solche Bundesmittel finanziert, die dem Land allgemein für Schienenverkehr zu Verfügung stehen.[1] Es geht um den gewaltigen Betrag von offiziell 7,2 Milliarden Euro, nach realistischen Schätzungen um rund einen doppelt so hohen Betrag von 14 Milliarden Euro. Damit würde auf mehr als ein Jahrzehnt der Ausbau des Schienenverkehrs in Baden-Württemberg zumindest massiv eingeschränkt. Wahrscheinlich würde man am Ende von „einem verlorenen Jahrzehnt für die Schiene in Baden-Württemberg“ sprechen müssen.
Kurz: S21 und die NBS Wendlingen – Ulm sind nicht nur verkehrspolitisch falsch, zerstörerisch für die urbane Struktur der Landeshauptstadt und zerstörerisch für die Landschaft auf der Schwäbischen Alb. Es handelt sich auch um Vorhaben, mit deren Realisierung sinnvolle Schienenprojekte verhindert werden.
Wir haben ein Programm entwickelt, das wir Bahnsinniges Baden-Württemberg (BBW) nennen. Es stellt eine Alternative dar zu den Projekten S21 und zur Hochgeschwindigkeitsstrecke Stuttgart – Ulm. Unser Programm zum Ausbau und zur Modernisierung des Schienenetzes und zur Förderung des Bahnverkehrs auf diesem Netz kostet mit 14 Milliarden Euro ebenso viel wie S21 und die NBS realistischer Weise kosten werden. Während S21 und die NBS viele teuer zu stehen kommt und nur wenigen nutzt (unter anderem den Baukonzernen und Banken und möglicherweise einigen Geschäftsleuten), bringt unser Projekt eines Bahnsinnigen Baden-Württemberg Millionen Menschen im Südweststaat Vorteile. Vor allem handelt es sich um ein Investitionsprogramm, das in Zeiten von Klimaveränderung und Ölknappheit nachhaltigen und zukunftsfähigen Verkehr ermöglicht – und viele Zehntausende sinnvolle Arbeitsplätze schafft und erhält.
Schiene in Baden-Württemberg 1950-2010
Baden-Württemberg gilt als schienenfreundlich. Richtig ist, dass es in dem Bundesland einige Beispiele für ein Wiederaufleben des Schienenverkehrs insbesondere auf regionaler Ebene gibt. Das auf Bundesebene am meisten zitierte und bekannteste Beispiel dürfte die Karlsruher Straßenbahn und deren regionale Ausweitung und deren Vernetzung mit den Partnerbahnen in Pforzheim, Heilbronn und Baden-Baden sein.
Als Ganzes betrachtet täuscht jedoch das Bild von einem bahnfreundlichen Baden-Württemberg. Tatsächlich fand der allgemeine Abbau der Schiene, den es in Westdeutschland bis 1990 gab und der sich nach 1990 – mit der deutschen Einheit – fortgesetzte, auch in Baden-Württemberg statt. Allein seit der Bahnreform von 1994 und bis Ende 2010 wurde das bundesdeutsche Schienennetz von 44.000 auf 36.00 km abgebaut.
Nicht anders im Südweststaat: Auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg gab es 1950 noch ein Schienennetz von 5150 km Länge (Bahnnetz mit regelmäßigem Personenverkehr). 1970 waren es bereits weniger als 4500 km, 1980 weniger als 4000 km. Um 1990 waren es noch 3850 km. Aktuell liegt die Netzlänge weiterhin unterhalb von 4000 km – trotz des Baus der Neubaustrecke Mannheim – Stuttgart. Selbst in den letzten Jahren gab es einen Abbau des Schienennetzes (zwischen 2006 und 2008 um 40 km).[2]
Es lässt sich feststellen: Das aktuelle Schienennetz in Baden-Württemberg entspricht nur 75 Prozent des Netzes, das es Mitte der 1920er Jahre oder nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Ein Viertel dieses Netzes wurde abgebaut. Um die volle Bedeutung dieses Vorgangs zu verstehen, sind drei Ergänzungen erforderlich. Erstens wurde in der gleichen Zeit die Länge des überörtlichen Straßennetzes mehr als verdoppelt. Allein die Länge des Autobahnnetzes in Baden-Württemberg wurde im Zeitraum 1955 bis 2009 von 350 km auf 1040 km verdreifacht. Zweitens gibt es den folgenden fatalen, gegenläufigen Prozess: Während die Kapazität der Straßen je Kilometer immer größer wird (in Form von breiteren Straßen, von mehrspurigen Straßen usw.), wird die Kapazität je Kilometer Schiene kontinuierlich reduziert: So kam es seit Anfang der 1990er Jahre zur Herausnahme von rund der Hälfte der Weichen, zum Abbau von Ausweichgleisen, zur Reduktion von zwei Drittel aller Gleisanschlüsse (Industriegleise) und zur Schließung von Hunderten Bahnhöfen. Drittens gab es einen massiven Ausbau des Flugverkehrs mit dem Bau und Ausbau neuer regionaler Airports (Friedrichshafen, Karlsruhe/Baden-Baden) und neuer Start- und Landebahnen. Allein zwischen 1993 und 2008 hat sich die Zahl der Fluggäste in Stuttgart-Echterdingen fast verdoppelt (von 5,1 Millionen auf 9,9 Millionen), wobei die in Stuttgart startenden und landenden Flüge zu einem großen Teil Inlandsflüge bzw. Flüge mit einer Flugdistanz von weniger als 650 Kilometern sind, es sich also um Flüge handelt, die ideal für eine Verlagerung auf die Schiene sind.[3] Doch ausgerechnet der Schienenfernverkehr stagniert seit 1995; als Anteil am gesamten Verkehr ist er deutlich rückläufig.
Stuttgart 21 und die Schienenausbau-Ankündigungspolitik
Im November 2010, während der Schlichtung zu S21, veranstaltete Bahnchef Rüdiger Grube eine Art Goodwill-Tour ins Rheintal und erklärte vor Ort, der Ausbau der Rheintalbahn sei gewährleistet. Auch werde man dort so weit wie möglich die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger (u.a. nach Lärmschutz und Untertunnelungen) berücksichtigen. Ausdrücklich sagte der Bahnchef: „Schließlich wollen wir kein zweites Stuttgart 21.“
Grube und die Landesregierung ließen mitteilen, dass auch bei Realisierung von S21 und der NBS alle wichtigen anderen Schienenprojekte im Land realisiert werden würden – gegebenenfalls mit Landesunterstützung. Die Verkehrsministerin des Landes, Tanja Gönner, wie Rüdiger Grube eine engagierte Betreiberin des Projektes Stuttgart 21, erklärte auf Anfrage des Friedrichshafener Landtagsabgeordneten Norbert Zeller: „Die Südbahn von Ulm über Ravensburg wird bis 2015 elektrifiziert.“
Diesen Ankündigungen kann man keinen Glauben schenken. Es handelt sich schließlich um Projekte, die auch in Zeiten, als es noch keine derart weit fortgeschrittenen S21-Planungen gab, vielfach angekündigt, jedoch nie realisiert wurden. Der Ausbau der Rheintalbahn steht seit eineinhalb Jahrzehnten auf dem Programm von Schienen-Investitionen. Er ist von großer Bedeutung für den die Alpen querenden Schienengüterverkehr und als Zulaufstrecke für die Neue Eisenbahn-Alpen-Transversale (NEAT), die in der Schweiz u.a. auf Drängen der EU realisiert wird (u.a. Lötschbergtunnel und Gotthard-Basis-Tunnel). Doch die Investitionen auf deutscher Seite haben bereits einen Rückstand von rund einem Jahrzehnt. Wenn das bisherige Ausbautempo beibehalten wird, dann sind die deutschen Zulaufstrecken zur NEAT im Jahr 2040 oder 2050 realisiert. Hinzu kommen inzwischen die berechtigten Forderungen der Bevölkerung im Rheintal u.a. nach Lärmschutz und Untertunnelungen. Wenn diese realisiert werden, muss die Deutsche Bahn AG rund eine Milliarde Euro zusätzlich in die Hand nehmen, Geld, das sie nicht hat und das sie insbesondere bei Realisierung von S21 und der Neubaustrecke über die Schwäbische Alb nicht zur Verfügung haben kann.
Oder nehmen wir das Beispiel Südbahn. Das – gut begründbare – Vorhaben einer Elektrifizierung der Bahnstrecke Ulm – Friedrichshafen wird seit mehr als einem Dreivierteljahrhundert angekündigt. Erstmals hieß es 1927, dass diese Strecke für die „Umstellung auf den elektrischen Betrieb“ vorgesehen sei. In den Jahren 1956 bis 1968 wurde das Projekt in jedem Landtagswahlkampf neu präsentiert. Dann gab es eine Periode, in der auch die Bundesbahn sich mit dem Diesel-Betrieb auf dieser Strecke und anderswo zufrieden gab – das war nicht ganz zufällig die Zeit des billigen Öls. Seit Anfang der 1990er Jahre wird die Elektrifizierung der Südbahn wieder – seitens der Deutschen Bahn AG, der Landesregierungen und der Bundesregierungen – offiziell als Priorität ausgegeben.
Doch erstellt wurden bisher nur vorbereitende planerische Skizzen. Es geht schließlich um eine Projekt, für das nur rund 130 Millionen Euro einzusetzen sind, das keiner größeren Planungen bedarf und das in rund einem Jahr realisiert werden könnte.
II Programm Bahnsinniges Baden-Württemberg
Das Programm Bahnsinniges Baden-Württemberg (BBW) besteht aus drei grundlegenden Investitionen und 15 Einzelprojekten.
Drei Basis-Investitionen in die Schienen-Infrastruktur
Notwendig ist erstens ein flächendeckender Ausbau des Schienennetzes – zumindest auf den Stand von 1950; zweitens die Elektrifizierung dieses Netzes – zumindest zu 85 Prozent; drittens geht es um die Reaktivierung von zunächst 250 Bahnhöfen.
II / 1 Flächenbahn – Ausbau des Schienennetzes um ein Viertel oder um 1200 km
Seit Mitte der 1990er Jahre reden alle Parteien davon, dass es einen „Vorrang Schiene“ geben müsse, weil die Schiene die einzige motorisierte Verkehrsform sei, die die Umwelt und das Klima in nur geringem Maß belastet. Dennoch findet die entgegengesetzte Politik statt. Allein zwischen 1990 und 2005 wurde in Baden-Württemberg das Schienennetz um zusätzliche 284 km abgebaut.
Wir fordern, dass damit Schluss ist und dass eine gezielte Politik zum Ausbau des Schienennetzes beschritten wird. Wir verlangen, dass das Schienennetz zumindest auf den Stand gebracht wird, den es in Baden und Württemberg Mitte der 1920er und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte. Das heißt, dass das noch bestehende Schienennetz um rund 1200 Kilometer erweitert werden muss. Vielfach heißt das, dass aufgelassene Strecken, bei denen oft die Trassen noch vorhanden sind, reaktiviert werden müssen. Oft handelt es sich dabei auch um Eisenbahnverbindungen, für deren Wiederinbetriebnahme sich Umweltverbände, der Fahrgastverband PRO BAHN und lokale Initiativen engagieren. Diese Verbindungen führen wir unten unter den 15 Teilprojekten ergänzend als „Schienenstrecken im vordringlichen Bedarf“ an. Gelegentlich spricht im übrigen einiges dafür, dass man sich bei der Reaktivierung von Schienenverbindungen nicht sklavisch an dem früheren Streckenverlauf orientiert und Anpassungen an veränderte Siedlungsstrukuren vornimmt.[4]
Kosten: Für den Wiederaufbau von rund 1200 km des Schienennetzes sind 4,2 Milliarden Euro zu veranschlagen. Dabei wird ein Betrag von 3,5 Millionen Euro je km unterstellt. (Ausgegangen wird von elektrifizierten Strecken.)
II / 2 Elektrifizierung
Nur gut die Hälfte des gegenwärtig noch vorhandenen Schienennetzes in Baden-Württemberg ist elektrifiziert. Die nicht elektrifizierten Strecken werden mit Dieseltraktion (Dieselloks und Dieseltriebwagen) betrieben. Das entspricht zwar der Relation, die bundesweit zwischen dem elektrifizierten und dem nicht elektrifizierten Netz besteht. Dennoch ist dies – auf Bundesebene und auf Ebene des Südweststaats – negativ zu werten. Der niedrige Elektrifizierungsgrad ist im übrigen zu einem erheblichen Teil eine Folge des Kalten Krieges, der spätestens seit 1989/90 beendet sein sollte.[5]
In der Schweiz sind mehr als 95 Prozent des Netzes elektrifiziert – dies, obgleich in unserem Nachbarland die Bedingungen der Topographie und des Klimas die Realisierung eines elektrifizierten Betriebs deutlich schwieriger gestalten als hierzulande. So beklagte sich im Winter 2010/2011 die deutsche Bahn AG darüber, dass manche Bahnstrecken zeitweilig nicht befahren werden konnten, weil Kälte und Frost Äste auf Oberleitungen niedergehen ließen und dabei die Stromzufuhr unterbrochen wurde. Solche Probleme gab es in der Schweiz auch im Winter 2010/2011 so gut wie nicht, obgleich die Temperaturen dort deutlich niedriger waren. Der Grund: Die schweizerischen Infrastrukturbetreiber und die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) halten ihr Streckennetz fast optimal instand (und kappen unter anderem rechtzeitig Äste über Oberleitungen).
Die umfassende Elektrifizierung in der Schweiz trug – zusammen mit dem Integrierten Taktfahrplan (ITF) – dazu bei, dass dort das Schienennetz weit gleichmäßiger ausgelastet ist als hierzulande. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die betriebswirtschaftliche Bilanz des Systems Schiene, worauf im letzten Teil dieses Papiers eingegangen wird.
Erst eine elektrifiziert betriebene Eisenbahn kann die Vorteile der Schiene gegenüber den konkurrierenden Verkehrsträgern Straße und Flugverkehr voll ausspielen. Dies gilt ganz besonders in den Zeiten des Klimawandels. Eine elektrifizierte Bahn
- benötigt deutlich weniger Energie als eine Bahn mit Diesel-Traktion;
- hat deutlich weniger Schadstoffemissionen;
- bietet erhebliche Synergieeffekte, da das Vorhalten und Instandhalten/Warten von
Fahrzeugen für die unterschiedlicher Traktionsarten weitgehend entfällt;
- bietet die Möglichkeit, binnen relativ kurzer Zeit auf regenerative Energien (vor allem
auf Strom aus Wind- und Solarenergie) umzustellen.
Wir sind bei diesem Programmpunkt eher bescheiden und halten ein Ziel von (nur) 85 Prozent Elektrifizierung des gesamten baden-württembergischen Schienennetzes auf mittlere Frist für realistisch. Damit müssten rund 1500 km des bestehenden Schienennetzes elektrifiziert werden. Die bereits genannten zu reaktivierenden zusätzlichen Schienenstrecken sollten , wie bereits erwähnt, von vornherein mit einer Elektrifizierung ausgestattet sein.
Kosten: Für die Elektrifizierung von 1500 km Schienennetz sind rund 1,8 Milliarden Euro erforderlich. Dabei werden 1,25 Millionen Euro je zu elektrifizierenden Schienenkilometer unterstellt.
II / 3 Bahnhöfe in Baden-Württemberg
In Baden-Württemberg gab es in den 1950er Jahren noch rund 750 Bahnhöfe.[6] 2010 sind es weniger als 200; maximal 150 Bahnhöfe können als klassische Bahnhöfe in Funktion bezeichnet werden – als Bahnhöfe mit zumindest einem besetzten Schalter mit den traditionellen Servicefunktionen wie Auskunft und Fahrkartenverkauf. Bei fast allen Bahnhöfen existiert inzwischen keine Bahnsteigsaufsicht mehr bei ein- und ausfahrenden und bei durchfahrenden Zügen.[7]. Von den 104 Bahnhöfen, die die DB Station & Service AG als ihr Eigentum in Baden-Württemberg ausweist, sind – nach Angaben der DB AG – nur 57 barrierefrei. Die Bahn hat jüngst ein Bahnhofsmodernisierungsprogramm Baden-Württemberg aufgelegt, in dem nur noch 66 Bahnhöfe Berücksichtigung finden.
Bahnhöfe sind integraler Bestandteil einer Bürgerbahn und einer Flächenbahn. Sie bilden Zugangs- und Ausgangsstellen im System Schiene. Funktionierende Bahnhöfe bieten Schutz bei Witterung und vor Vandalismus; sie stellen Service- und oft kommunikative Zentren dar mit Fahrkartenverkauf, Information und Beratung, Kiosken und Gastronomie. Bahnhöfe mit Personal sind auch Teil einer Schienenverkehrs-Sicherheit: Zunehmend kommen inzwischen Menschen zu Schaden – und oft sogar zu Tode – weil Bahnhöfe kein Personal haben, weil Bahnsteige und Bahnunterführungen und –überführungen nicht von Schnee geräumt und in gutem Zustand gehalten werden, weil es keine Durchsagen auf Bahnsteigen – zum Beispiel mit Hinweisen auch durchfahrende Züge – gibt. Sie beleben Orte bzw. sind Teil von urbanen Strukturen. Erfolgreiche Nahverkehrsunternehmen wie die Usedomer Bäderbahn (UBB) oder die Salzburger Verkehrsbetriebe sehen den Einsatz von Fahrkartenautomaten kritisch und setzen vor allem auf eine Bedienung der Fahrgäste durch Personal (an Schaltern und in den Zügen). In der Schweiz ist die Bahnhofsdichte – die Zahl der Bahnhöfe mit Personal und Service je 1000 Schienenkilometer – mehr als drei Mal so hoch wie in Deutschland. Fast alle Bahnhöfe haben fahrgastfreundliche Besetzungszeiten.[8]
Wir treten für eine Revitalisierung der Bahnhöfe in Baden-Württemberg ein. Rund 350 Bahnhöfe in einem Netz mit 5000 Schienenkilometer – also ein Bahnhof auf rund 15 Kilometer – scheint eine Mindestanforderung zu sein. Das kommt einer Verdreifachung der Zahl der Bahnhöfe mit klassischen Bahnhofsfunktionen gleich (womit wir immer noch deutlich unter dem Niveau der 1950er bis 1970er Jahre liegen würden). Dabei müssen Bahnhöfe grundsätzlich barrierefrei gestaltet sein. Es geht also bundeslandweit um rund 200 Bahnhöfe, die zu reaktivieren sind. Damit verbunden wären auch rund 1000 Arbeitsplätze für Bahnhofspersonal.
Kosten: Für die Reaktivierung von rund 200 Bahnhöfen ist ein Betrag von 400 Millionen Euro erforderlich. Unterstellt werden rund zwei Millionen Euro je Bahnhof.
III 15 Einzelprojekte
Es gibt in Baden-Württemberg eine Reihe wichtiger einzelner Schienenprojekte. Wir haben – neben unseren Alternativen zu Stuttgart und zur Neubaustrecke Stuttgart – Ulm 13 solcher Projekte identifiziert. Wir orientieren uns auch hier oft an Vorschlägen von Initiativen und Umwelt- und Fahrgastverbänden bzw. wir sind offen für Vorschläge, die ergänzend oder erweiternd sind.
An der Spitze der Einzelprojekte stehen unsere Alternativen zu S21 und zur NBS Wendlingen – Ulm.
1. Stuttgart Kopfbahnhof 21
Notwendig ist die Optimierung des bisherigen Kopfbahnhofs in der Landeshauptstadt und die Sanierung des Bonatz-Baus – mit dem Wiederaufbau des Nordflügels. Das weitgespannte Glashallendach, das beim Bonatz-Bau ursprünglich über den Bahnsteigen vorgesehen war (und das in der Bauzeit 1907-1925 der Geldnot zum Opfer fiel) kann jetzt realisiert werden. Es sollte in weiten Flächen mit Photovoltaik-Zellen ausgestattet werden, womit ein großer Teil der Stromversorgung des Bahnhofs mit alternativer Energie abgedeckt werden würde.[9]
Mit dem Bau eines weitgespannten Bahnhallendachs entfallen die Bahnsteigstützen auf den Gepäckbahnsteigen. Dies wiederum ermöglicht das Ein- und Aussteigen nach zwei Seiten, womit dort, wo erforderlich und sinnvoll, kürzere Haltezeiten denkbar sind. Notwendig ist schließlich die Sanierung des Gleisvorfelds mit dem „Tunnelgebirge“ (Überwerfungsbauten).
Kosten: 800 Millionen Euro.[10]
2. Optimierung der bestehenden Schienenverbindung Stuttgart – Geislingen – Ulm
Wir sprechen uns grundsätzlich gegen den Bau einer Neubaustrecke aus. Die Gründe dafür sind erstens die enormen – nicht verantwortbaren – Kosten jeder Neubaustrecke, zweitens der Vergleich mit anderen Schienenverbindungen und drittens unsere grundsätzliche Orientierung am Integralen Taktfahrplan (ITF).[11] Hinsichtlich des Integralen Taktfahrplans gilt: Für die überwältigende Mehrheit der Fahrgäste ist nicht so sehr die Geschwindigkeit zwischen zwei Städten, sondern die Vernetzung der Schiene mit optimalen Umsteigemöglichkeiten und kurzen Wartezeiten auf Bahnhöfen und Knotenpunkten entscheidend. Bei einem flächendeckenden ITF erhält man eine relativ hohe Reisegeschwindigkeit im gesamten Netz und kann auf Top-Geschwindigkeiten zwischen großen Zentren verzichten. Im Fall Stuttgart – Ulm muss man sogar auf diese Top-Geschwindigkeit verzichten. Eine Fahrtzeit deutlich unter einer halben Stunde ist in keinem Fall erreichbar, womit Ulm kein Halbstunden-Taktknoten werden kann. Wird die Neubaustrecke jedoch so gebaut, wie bisher – mit einer Fahrtzeit von rund 30 Minuten – geplant, dann werden Hunderttausende Fahrgäste im Jahr, die in Ulm in eine der vier möglichen Richtungen umsteigen, dort 15 bis 25 Minuten Wartezeiten einplanen müssen.
Die aktuelle Fahrtzeit von Stuttgart nach Ulm von derzeit 54 Minuten ist fast optimal für den klassischen Knoten im Stundentakt-Verkehr („00-Fahrplan-Knoten“). Sie kann durch eine Ertüchtigung und Optimierung auch bei Beibehaltung der bisherigen Streckenführung über Geislingen um drei bis fünf Minuten reduziert werden. Damit besteht in Ulm bei Verwirklichung eines ITF ausreichend Zeit zum Umsteigen; Ulm wird zu einen Knoten in einem Integralen Taktfahrplan. Interessant ist im übrigen, dass der ehemalige Ministerpräsident Erwin Teufel 1996 in einer Regierungserklärung ausdrücklich forderte, Stuttgart 21, die Neubaustrecke und den Integralen Taktverkehr miteinander zu verbinden. Als die Landesregierung erkannt hatte, dass die drei Dinge nicht zusammenpassen, erwähnte sie den ITF nicht mehr.[12].
Kosten: 300 Millionen Euro.
3. Ausbau der Rheintalbahn auf Grundlage von „Baden 21“
Bei der Realisierung des Ausbaus der Rheintalbahn müssen die Forderungen der Bürgerinitiativen, wie sie als „Baden 21“ zusammengefasst wurden., Berücksichtigung finden. Das erfordert vielfach alternative Trassenführungen, Untertunnelungen und die Installierung eines bestmöglichen Lärmschutzes. Dabei treten wir für eine Abschaffung bzw. solange dies nicht erfolgt ist, für die Nichtberücksichtigung des sog. Schienenbonus ein.
Mehrkosten (gegenüber der sogenannten Antragstrasse der DB ProjektBau GmbH): 900 Millionen Euro.
4. Streckenabschnitte zur vordringlichen bzw. durchgehenden Elektrifizierung
Das oben genannte umfassende Programm einer Elektrifizierung ist als Mittelfrist-Programm zu verstehen, ausgelegt auf rund 10 bis 15 Jahre (was der realen Bauzeit von S21 und der NBS Wendlingen – Ulm entspricht). Es gibt jedoch einige Strecken, deren Elektrifizierung besonders dringend ist und die umgehend angegangen werden muss. Konkret geht es dabei um die folgenden Schienenverbindungen:
a) Ulm – Friedrichshafen (Südbahn; 104 km)
b) Basel – Schaffhausen (Hochrheinbahn; 94 km)
c) (Aschaffenburg) – Wertheim – Crailsheim – Ulm (ab Aschaffenburg: 242 km)
Insgesamt handelt es sich um 440 Schienenkilometer, die kurzfristig zu elektrifizieren sind.
Kosten: In Position II /.2 enthalten
5. Zweigleisiger Ausbau (einschließlich Elektrifizierung)
Gut 200 km im bestehende Schienennetz Baden-Württembergs müssen kurzfristig auf zweigleisigen – elektrifizierten – Standard ausgebaut werden. Es handelt sich um die folgenden Verbindungen:
a) Radolfzell – Friedrichshafen – Lindau (Bodenseegürtelbahn; 81 km)
b) Horb – Hattingen (Gäubahn; 90 km)
c) Backnang – Schwäbisch Hall-Hessental (Murrbahn; 42 km)
Kosten: 500 Millionen Euro (213 km bei 2,5 Mio je km).
6. Streckenabschnitte zur vordringlichen Wiederherstellung bzw. als Neubau
Unter den 1200 km Schienenstrecken, die elektrifiziert neu zu bauen bzw. wieder aufzubauen sind (siehe Punkt II / 1) befinden sich vier Verbindungen mit insgesamt rund 85 km Länge, die kurzfristig hergestellt werden müssen. Es handelt sich um die folgenden Verbindungen:
a) Mengen – Pfullendorf – Stockach (Ablachtalbahn; 40 km)
b) Erbach – Ehingen (Neubau; für Fernverkehr Ulm – Basel; 15 km)
c) Calw – Weil der Stadt (23 km)
d) Ludwigsburg – Markgröningen (Neubau; 8,5 km)
Gesamte Länge: 86,5 km;
Kosten: Bereits in II /1 enthalten.
7. bis 12. Ausbau bzw. Neubau von sechs regionalen Stadtbahn- bzw. von S-Bahn-Systemen
International und bundesweit fand der Erfolg der Karlsruher Stadtbahn große Beachtung. Hier wurden hohe Fahrgastzahl-Steigerungen einer Bahn, die ursprünglich nur als Straßenbahn innerhalb der städtischen Grenzen verkehrte, erreicht vor allem durch deren regionalen Ausbau. Grundlage für den Erfolg bildeten zwei Innovationen: der Einsatz elektrischer Zwei-System-Antriebe (Gleichspannung und Wechselspannung) und das Befahren von klassischen Eisenbahnstrecken durch Straßenbahnen beziehungsweise Stadtbahnen. Letzteres wurde durch die identische Spurweite von 1435 mm der ursprünglichen Karlsruher Straßenbahn und der Standardspurweite der Bahn ermöglicht. Inzwischen existiert eine Vernetzung der Karlsruher Stadtbahn mit den Bahnen in Heilbronn, Pforzheim und Baden-Baden. Damit wurde ein regionaler Raum mit rund einer Million Einwohner für einen optimalen Schienennah- und Regionalverkehr erschlossen. Die Erfahrungen in Karlsruhe legen dabei nahe, dass diejenigen Verkehrsbetreiber, die auf einem Schienennetz die größte Verkehrsleistung erbringen, auch über das Netz direkt verfügen sollten. Dieses Netz befindet sich vielfach noch unter Kontrolle von DB Netz, wobei die Trassengebühren, die DB Netz von den Betreiber-Gesellschaften verlangt, von diesen oft als deutlich zu überhöht empfunden werden.
Es handelt sich um die folgenden Stadt- und Regionalbahnen:
- Karlsruhe / Heilbronn / Pforzheim / Baden-Baden (hier geht es vor allem um eine Optimierung und um das Erlangen einer Kontrolle über die Infrastruktur)
- S-Bahn Rhein-Neckar (u.a. Mannheim / Ludwigshafen / Heidelberg) (vor allem Ausbau)
- Breisgau-S-Bahn (Freiburg). Hier handelt es sich um die Fortführung des erfolgreichen Pilotprojektes „BSB 2020“, auch ergänzt durch Neubaustrecken der meterspurigen Freiburger Straßen- und Stadtbahn. ).
- Stadtbahn Neckar-Alb (Tübingen / Reutlingen / Balingen). Es handelt sich um ein völlig neues Projekt, wofür bereits umfangreiche Planungen vorliegen.
- Regio-S-Bahn Donau-Iller (Ulm / Neu-Ulm). Auch hier handelt es sich um ein neues Projekt, das bereits mit ersten Planungen untersetzt wurde.
- Regio S-Bahn Basel (deutsche Strecken; unter Einbeziehung der Kandertalbahn). Ergänzend dazu sind auch grenzüberschreitende Strecken der erfolgreichen Baseler Tram (Meterspur) projektiert beziehungsweise bereits im Bau.
Kosten: 3 Milliarden Euro
13. Neubaustrecke Frankfurt – Mannheim mit ausbau des Knoten Mannheim Hbf
Der Ausbau dieser Verbindung für den schnellen Personenverkehr und für den Güterverkehr (auch in Ergänzung zur Rheintalbahn) ist seit geraumer Zeit Teil der Bundesplanung im vordringlichen Bedarf. Dieser Streckenneu- und -ausbau ist auch deshalb dringend erforderlich, weil bereits heute Engpässe im Schienenpersonenverkehr bestehen und u.a. der oben (unter Punkt 8.) erwähnte Ausbau der S-Bahn Rhein-Neckar nur dann im geplanten Umfang möglich ist, wenn die Neubaustrecke in der geplanten Form realisiert wird. Die bisherige Streckenführung ist nur für den Fernverkehr, teilweise noch für den Nahverkehr geeignet. Ein Schienengüterverkehr ist auf dieser Trasse ausgeschlossen.
Grundsätzlich gilt hier, ähnlich wie im Fall der Rheintalbahn, dass eine Reihe wichtiger Forderungen von lokalen und regionalen Initiativen zu berücksichtigen sind.[13] So sind Streckenführungen abzulehnen, bei denen Städte vom Schienenfernverkehr abhängt werden oder deren Einbindung in den Schienenfernverkehr bei Realisierung des geplanten Trassenverlaufs geschwächt würde.[14]
Kosten: 1,5 Milliarden Euro[15]
14. Bodensee-S-Bahn / Bodensee-Gürtelbahn (einschließlich Erhalt des Inselbahnhofs Lindau)
Dieses Projekt für eine durchgehende – in sich geschlossen zu betreibende – Eisenbahnverbindung um den Bodensee, bei dem die Länder Deutschland (Baden-Württemberg und Bayern), Österreich und die Schweiz und deren Bahnen beteiligt sein würden, wird seit geraumer Zeit vorgeschlagen. Ein Orientierungspunkt war dabei bisher die Internationale Gartenbau-Ausstellung, die im Jahr 2017 rund um den Bodensee stattfinden wird. Allein für dieses Ereignis wird für die „Euregio Bodensee“ ein öffentlicher Verkehrsverbund, bestehend aus Bahn-, Bus- und Schiffsverkehr ins Auge gefasst.
Es handelt sich um ein Projekt, mit dem in idealer Weise sanfter Tourismus realisiert werden könnte: eine Region, in der man mit dem Fahrrad, auf Schiffen und per Bahn verkehren kann. Der Erfolg von zum Teil vergleichbaren Projekten wie der Strecke Passau – Wien mit der Möglichkeit, per Rad und Schiff zu verkehren, illustriert das hohe Potential eines solchen Projektes.
Das Projekt Bodenseegürtelbahn ist zugleich eine Alternative zu den Plänen zum Ausbau der B31 und zum Bau verschiedener Umgehungsstraßen um Bodenseestädte.[16]
Die Bodensee-S-Bahn wird bereits heute vor Ort als in Gegensatz zum Bau von Stuttgart 21 stehend gesehen. Baden-Württembergs Verkehrsministerin Tanja Gönner erklärte im Sommer 2010, eine „Bodensee-S-Bahn im Halbstundentakt hat wenig Realisierungschance, weil in Baden-Württemberg dafür auf absehbare Zeit keine Mittel vorhanden sind.“ Das führte im Bodenseeraum zu einer heftigen Kontroverse, in deren Verlauf die Bodensee-S-Bahn-Initiative darauf verwies, dass vor allem das Projekt Stuttgart 21 die finanziellen Mittel für Schienenverkehrsvorhaben binden würde. Selbst die CDU in Friedrichshafen, die verbal das Projekt Bodensee-S-Bahn mitträgt, zeigte sich irritiert ob der schroffen Absage durch die Verkehrsministerin.[17]
Kosten: (für die baden-württembergischen Streckenabschnitte, bei Berücksichtigung von bereits oben erwähnten Ausbaumaßnahmen wie Position 5 a): 0,5 Milliarden Euro.
15. Neubelebung des „Kleber-Express“ (München – Freiburg)
Schaffung einer täglich durchgehenden Verbindung eines Zugpaares München – Memmingen – Aulendorf – Saulgau – Sigmaringen – Donaueschingen – Titisee – Freiburg und zurück. Es handelt sich um ein weiteres Projekt „Sanfter Tourismus“, mit dem die landschaftlich reizvollen und touristisch interessanten Regionen Südschwarzwald, Donautal, Oberschwaben und Allgäu verknüpft werden.
Eine solche Zugverbindung wurde mit Beginn des Sommerfahrplans 1954 erstmals eingerichtet. Sie entwickelte sich zunehmend zu einer touristischen Attraktion. Als die Deutsche Bahn AG in den 1990er Jahren den Zug einstellte, entwickelte sich unter maßgeblichem Einfluss des Hoteliers Andreas Kleber eine breite Initiative zur Wiederbelebung des Zugpaars, worauf die Bahn den Zug wieder auf´s Gleis brachte und ihn auch offiziell als „Kleber-Express“ verkehren ließ. Ab dem 14. Dezember 2003 wurde die Direktverbindung München – Freiburg erneut eingestellt. Die Schließung des international renommierten Hotels Kleber Post in Saulgau trug wesentlich dazu bei.
Die Erfolge des Schweizer Glacier-Express und die jüngeren Erfolge vieler Nostalgie-Bahnen in anderen Ländern zeigen, dass ein solches Projekt attraktiv und – bei ausreichender Unterstützung durch die entsprechenden Regionen, Hoteliers und touristischen Einrichtungen – erfolgreich sein kann.
Kosten: 30 Millionen Euro.
IV Kosten, Arbeitsplätze und Mehrheiten
Das hier vorgeschlagene Programm für ein Bahnsinniges Baden-Württemberg mag ehrgeizig erscheinen. Doch es ist nicht unrealistisch. Vor allem laufen die drei Totschlagargumente, die gewöhnlich gegen ein solches Vorhaben vorgebracht werden, ins Leere. Danach ist ein solches Programm nicht zu bezahlen. Es kostet Arbeitsplätze (solche in der Autoindustrie). Und es steht in Widerspruch zur Mehrheit in der Bevölkerung. Diese Gegenargumente sind ernst zu nehmen. Doch sie lassen sich widerlegen.
Kosten: Wir haben – wie bereits eingangs erwähnt – das BBW-Programm so ausgelegt, dass dessen Kosten denjenigen Ausgaben entsprechen, die realistischerweise für Stuttgart 21 und für die Neubaustrecke über die Schwäbische Alb aufzuwenden sind. Wir haben dabei andere zerstörerische Verkehrsprojekte, die es im Land gibt und die sich mit dem hier skizzierten starken Ausbau der Schiene erübrigen, nicht einmal berücksichtigt. Wir sind auch nicht eingegangen auf die großen externen Kosten, die der Straßenverkehr und der Flugverkehr in Form von Gesundheitsschäden, Landschaftszerstörung, Lärmemissionen und Klimaveränderung verursachen, Kosten, die die gesamte Gesellschaft und teilweise spätere Generationen zu bezahlen haben.
Hinsichtlich des Schienenverkehrs gilt grundsätzlich: Ein relativ luxuriöser Schienenverkehr, wie ihn beispielsweise die Schweiz bietet, kommt die Steuerzahlenden keineswegs teuer zu stehen. Im Gegenteil: Maßnahmen wie die mit dem BBW-Programm beschriebenen, führen dazu, dass auf dem Schienennetz bedeutend mehr Leistung im Personen- und Güterverkehr erbracht wird. Damit fallen die relativ hohen fixen Kosten je Leistungseinheit oder je Fahrkarte weniger ins Gewicht. Perspektivisch ist auf diese Weise durchaus wieder ein Schienenverkehr vorstellbar, der seine Kosten im vollen Umfang trägt. Immerhin deckten die europäischen Eisenbahnen in der Zeit zwischen 1840 bis 1925 ihre Kosten ebenfalls; ja sie warfen sogar Gewinne ab. In der Schweiz liegt inzwischen der Betrag, den die öffentliche Hand je Leistungseinheit an Unterstützung zuzuschießen hat, bei einem Drittel des Betrags, der in Deutschland aus öffentlichen Kassen beizusteuern ist.[18] Das heißt, die Schweizer Luxusbahn kostet die eidgenössischen Steuerzahlerinen und Steuerzahler erheblich weniger als die Deutsche Service-Wüsten-Bahn.
Arbeitsplätze: Baden-Württembergs Wirtschaft ist in erheblichem Maß von der Autoindustrie geprägt. Aktuell gibt es in Baden-Württemberg rund 180.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Fahrzeugbau (Autoindustrie und Zulieferer).[19] Die Stärke dieser Industriebranche wurde lange Zeit als Segen verstanden. Doch diese Abhängigkeit muss in Zeiten des Klimawandels und der Ölknappheit vor allem als Problem gesehen werden. Es sind nicht umweltfreundliche Projekte oder ein Schienenausbauprogramm wie das hier präsentierte, mit denen die Arbeitsplätze in der Autoindustrie bedroht werden. Es gibt vielmehr zwei Tendenzen, die die Arbeitsplätze in diesem Sektor zu einem großen Teil gefährden und die letzten Endes die Branche als Ganzes in Frage stellen. Das ist auf der einen Seite der gewaltige Rationalisierungsdruck und der immer größere Kapitaleinsatz im Fahrzeugbau, gepaart mit großangelegten Verlagerungsprojekten von Fertigungsstätten weg aus Deutschland und in Regionen mit niedrigeren Lohnkosten und mit noch boomender Autonachfrage. Auf der anderen Seite wird der Fahrzeugbau mit dem Klimawandel und der Ölknappheit grundsätzlich in Frage gestellt. Große Autoregionen wie Detroit in den USA sind heute bereits Regionen mit 30 bis 40 Prozent Arbeitslosigkeit und verbreiteter Armut. Kraftstoffe aus Agrarerzeugnissen weisen auf Dauer keinen Ausweg; sie sind auch angesichts des Welthungers moralisch verwerflich. Schließlich werden Elektro-Pkw auch in zwei Jahrzehnten nur in Nischenmärkten eine Rolle spielen.
Vor diesem Hintergrund stellt ein Programm für eine alternative Verkehrsorganisation zugleich eine Perspektive für neue und gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze dar.
Mehrheiten: Natürlich wird ein Programm wie das hier entwickelte kurzfristig auf Vorbehalte stoßen und nicht sofort mehrheitsfähig sein. Das liegt jedoch vor allem an den großen Lobbys der Autobranche und des Flugverkehr und an einer Medienlandschaft, in der Argumente, wie die hier entwickelten, kaum Widerhall finden. Das wird bereits beim Projekt Stuttgart 21 deutlich: Die maßgeblichen Zeitungen im Stuttgarter Raum und die größte Tageszeitung Deutschlands sind in einer Medienholding mit fast monopolartigem Charakter zusammengefasst. [20] Doch auf der rein sachlichen Ebene kann und muss für eine nachhaltige Verkehrspolitik argumentiert werden – und hier können bei entsprechendem Engagement auch bestehende Mehrheiten gekippt und neue Mehrheiten zugunsten einer alternativen Verkehrspolitik gewonnen werden.
Interessant war hier die Erfahrung der Kampagne gegen die Bahnprivatisierung. Zum Zeitpunkt Herbst 2001, als die damals neue CDU/CSU-SPD-Regierung in ihrem Koalitionvertrag das Ziel einer Bahnprivatisierung in den Folgejahren festschrieb, war rund ein Drittel der Bevölkerung bei dieser Frage unschlüssig; Befürworter und Gegner einer Bahnprivatisierung hielten sich in etwa die Waage. Vor dem Hintergrund einer breiten gesellschaftlichen Diskussion zu dem Thema und einer Kampagne gegen dieses Projekt, wesentlich getragen von dem Bündnis Bahn für Alle, haben wir inzwischen seit 2008 und bis zum heutigen Tag eine deutlich verändertes und weitgehend stabile Meinungsbild: Mehr als siebzig Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung lehnen eine Bahnprivatisierung ab; nur noch knapp ein Fünftel befürwortet eine Bahnprivatisierung und nur sehr wenige haben keine Meinung.
Hier schließt sich der Kreis zu Stuttgart 21. Als das Projekt des Tiefbahnhofs in der Landeshauptstadt vor 17 Jahren, im April 1994, erstmals vorgestellt wurde, gab es auch im Raum Stuttgart viele Menschen, die dem Vorhaben zustimmten. Die intensive Überzeugungsarbeit zunächst weniger vor Ort, zwei Anläufe zu Bürgerentscheiden (1995 und 2007) und schließlich die massenhaften Mobilisierungen das ganze Jahr 2010 hindurch und seit Anfang des Jahres 2011 bewirkten die Wende: Im Raum Stuttgart lehnt inzwischen eine deutliche Mehrheit das Vorhaben ab. Dabei handelt es sich überwiegend nicht um „Bauchentscheidungen“. Vielmehr waren und sind es die Sachargumente, die die Bürgerinnen und Bürger in der Region Stuttgart und Hunderttausende in ganz Baden-Württemberg zu Gegnerinnen und Gegnern des Projekts gemacht haben.
Das Programm Bahnsinniges Baden-Württemberg (BBW) ist ein weiteres Argument, Stuttgart 21 und die Neuaustrecke über die Schwäbische Alb abzulehnen. Mit diesem Programm begegnen wir auch dem – an sich kritisch zu bewertenden – Einwand, die Menschen, die S21 ablehnen, seien „ja nur Neinsager“.
Ein Bahnsinniges Baden-Württemberg ist eine konstruktive Alternative zu den zwei zerstörerischen Vorhaben S21 und Neubaustrecke. Es ist vor allem ein Programm für Millionen, ein Programm, das den veränderten Zeiten mit Ölknappheit und Klimawandel Rechnung trägt und für eine verantwortungsvolle, zukunftsorientierte Verkehrspolitik plädiert.
Dr. Winfried Wolf ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Büro der Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig und aktiv bei Bahn für Alle (BfA) und in der Bahnfachleutegruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB).
Veröffentlichungen zum Thema:
Volker Lösch / Sabine Leidig / Gangolf Stocker / Winfried Wolf (Herausgeber), Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt?, Köln 2010 (Promedia-Verlag)
Winfried Wolf, Oben bleiben! Eine Antwort auf Heiner Geißler, Köln 2011 (PapaRossa)
Winfried Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2007 und 2009 (Promedia; 510 Seiten).
Winfried Wolf, In den letzten Zügen. Bürgerbahn statt Börsenwahn, Hamburg 2006 (VSA)
Winfried Wolf, Berlin – Weltstadt ohne Auto? Eine Verkehrsgeschichte 1848-2015 (Neuer ISP-Verlag)
Winfried Wolf, Stuttgart 21 – Hauptbahnhof im Untergrund?, Köln 1995 und 1997 (Neuer ISP-Verlag)
[1] Der Bundesrechnungshof (BRH) hat diese Finanzierung in seinem Bericht vom Oktober 2008 zusammengefasst. Der BRH schlüsselte den errechneten Gesamtbetrag der Baden-Württemberg zugewiesenen und für S21 und die NBS eingesetzten Bundesmittel wie folgt auf: Gelder aus dem Bundesschienenwegeausbaugesetz (BSchwAG § 8 Abs. 1 und 2) in Höhe von 500 und 200 Millionen Euro; Gelder aus der Leistungs- und Finanzierungs-Vereinbarung Bund/Bahn (LuFV) in Höhe von 300 Millionen Euro; Gelder aus Mitteln des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG; Bundesanteil) in Höhe von 153 Millionen Euro. Bundesrechnungshof, Bericht vom 30. Oktober 2008, S. 8. Hinzu kommen mehrere Millionen Euro faktisch abgezweigte Regionalisierungsmittel (dem Land zugewiesene Bundesmittel für den Schienenpersonennahverkehr), die aus einem langfristig angelegten Vertrag des Landes mit DB Regio über Nahverkehrsleistungen zu deutlich überhöhten Preisen resultieren. Als direkte Mittel des Landes sind die 950 Millionen Euro für die NBS, als direkte Mittel der Stadt Stuttgart 450 Millionen Euro für den Kauf von Bahngrundstücken, als direkte Mittel der Region rund 115 Millionen Euro der Flughafen Stuttgart GmbH zu rechnen.
[2] Angaben nach: Pro Bahn, Zukunft des Schienennetzes in Baden-Württemberg, Thesenpapier, Januar 2003; Statistisches Jahrbuch 2010. Es gibt auf Wikipedia eine detaillierte Liste mit stillgelegten Eisenbahnstrecken in Baden-Württemberg (Stand: 10.2.2011). Auch wenn die Liste nicht vollständig ist, so ist sie für einen Vergleich zwischen einzelnen Jahrzehnten mit Stillegungen interessant. Danach wurden 1945-1950 Strecken mit einer Länge von 9,6 km stillgelegt, in den 1950er Jahren 23,5 km, in den 1960er und 1970er Jahren 112 bzw. 114km, in den 1980er Jahren 83km, in den 1990er Jahren 191 km und 2000 bis 2005 94 km. Dass heißt, der naheliegende Gedanke, die Stillegungen hätten vor allem in der Zeit des Booms der Autogesellschaft stattgefunden und wären danach von geringerer Bedeutung gewesen, wird hier nicht bestätigt. Die größten Stillegungen pro Jahr fanden nach 1990 statt.
[3] 1968 überstieg die Zahl der Fluggäste in Stuttgart erstmals die Zahl von 1 Million, 1972 waren es 2 Millionen und 1985 drei Millionen. Die Pläne von Landesregierung und Bund sehen eine weitere Steigerung der Fluggäste in Stuttgart von derzeit knapp 10 auf 18 bis 20 Millionen bis 2025 vor. Dem dient auch die Anbindung des Flughafens an den Schienenpersonenfernverkehr, wie er mit Stuttgart 21 vorgesehen ist.
[4] Bei den Schienenprojekten im vordringlichen Bedarf orientierten wir uns ausdrücklich an Vorschlägen der baden-württembergischen Landesverbände des VCD, des BUND und des Fahrgastverbandes PRO BAHN. Siehe „Der Bahnhof mit Köpfchen – Kopfbahnhof 21“, herausgegeben von BUND, VCD und Initiative Leben in Stuttgart – kein Stuttgart 21, ohne Datum; und „Die Zukunft des Schienennetzes in Baden-Württemberg“, Januar 2003, herausgegeben von pro Bahn Baden-Württemberg. An dieser Stelle sei diesen Verbänden und den vielen lokalen Initiativen für ihr Engagement gedankt.
[5] Bis in die 1980er Jahre hinein forderte die Bundeswehr, dass nicht mehr als 50 Prozent des (westdeutschen) Schienennetzes elektrifiziert bzw. dass 50 Prozent des Netzes und des Lokbestands auf Dieseltraktion zu beruhen habe. Die Militärs hingen dabei dem alten Denken an, wonach in einem klassischen Krieg der (rote) Gegner die Elektrizitätsversorgung schnell ausschalten könne, wohingegen Eisenbahnen mit Dieseltraktion wesentlich flexibler und weniger verwundbar sein würden.
[6] Bis Mitte der 1990er Jahre wurde die Zahl der Bahnhöfe in der Bundesrepublik Deutschland und – für Westdeutschland – nach Bundesländern geordnet einigermaßen übersichtlich im Statistischen Jahrbuch dokumentiert. So nennt das Statistische Jahrbuch 1995 (S. 316) für Baden-Württemberg und für das Jahr 1993 noch 641 Bahnhöfe, davon 486 im Bestand der Deutschen Bundesbahn. Die aktuellen Ausgaben der statistischen Jahrbücher haben zwar einige hundert Seiten mehr Umfang, sie enthalten jedoch keine Angaben mehr zu den Bahnhöfen.
[7] In einer aktuellen Mitteilung nennt die DB AG-Tochter DB Station und Service 104 Bahnhöfe als in Baden-Württemberg zu ihrem Bestand zählend. Die Bahnhöfe anderer (kommunaler und privater) Bahnen sind hinzuzuzählen. Insgesamt dürften es deutlich weniger als 150 sein. Siehe: Antrag der Abg. Werner Wölfle u.a. Grüne-MdLs und die Stellungnahme des baden-württembergischen Innenministeriums „Umsetzung des Bahnhofsmodernisierungsprogramms, Drucksache 14 / 4847 (Landtag Baden-Württemberg).
[8] Bei der Usedomer Bäderbahn handelt es sich um eine GmbH, die eine hundertprozentige Tochter der Deutschen Bahn AG ist. Sie kontrolliert auch die Infrastruktur, also das Schienennetz und die Bahnhöfe, was in erheblichem Maß zum Erfolg dieser Bahn beigetragen hat.
[9] Der jüngst verstorbene SPD-Bundestagsabgeordnete und Träger des alternativen Nobelpreises Hermann Scheer machte vor rund sieben Jahren in einem Schreiben an die Deutsche Bahn AG den Vorschlag, alle Bahnhofs-Dächer in großem Umfang mit Photovoltaik-Zellen auszustatten und den damit gewonnenen Strom in die eigenen Stromanlagen einzuspeisen bzw. sich diesen Strom auf Basis des Energie-Einspeisungsgesetzes (EEG) vergüten zu lassen. Die Bahn ist mit ihren noch rund 5000 Bahnhöfen (die Mehrzahl davon allerdings ohne Personal) bundesweit das Unternehmen mit den mit Abstand größten Dachflächen. Scheer schätzte, dass auf diese Weise ein erheblicher Teil des Bahnstroms in Form von regenerativem Strom gewonnen werden könnte. Die Deutsche Bahn AG beantwortete Scheers Anfrage nicht.
[10] Die im K21-Modell geforderten zusätzlichen Gleise im Neckartal sind bei dieser Position und bei der folgenden nicht enthalten. Wir halten eine solche Erweiterung der Zulaufstrecken nicht für erforderlich. Siehe auch Karl-Dieter Bodack. „Bahnzukunft für Stuttgart und Baden-Württemberg – Alternativen zu S21“, Dezember 2010. Auch nicht vorgesehen ist eine Einbindung des Stuttgarter Flughafens in den Fernverkehr. Wir halten den Anschluss des Stuttgarter Flughafens an den öffentlichen Schienenverkehr für ausreichend und im bundesweiten und internationalen Vergleich für überdurchschnittlich gut. Im übrigen muss eine nachhaltige Verkehrspolitik bewirken, dass Flugverkehr aus der Luft auf die Schiene verlagert wird. In der Regel wird der umgekehrte Weg beschritten; die Schiene wird zum Zubringer zum Flugverkehr ausgebaut.
[11] Es gibt im bundesweiten Schienennetz mindestens ein Dutzend vergleichbar wichtige Strecken, auf denen die Bahn mit einer gleichen oder geringeren Reisegeschwindigkeit wie auf derjenigen zwischen Stuttgart und Ulm verkehrt und auf denen es keinerlei Planungen für Neubaustrecken gibt. Ein krasses Beispiel ist die Verbindung Stuttgart – Heilbronn, auf der in der Regel nur Nah- und Regionalverkehr fährt und wo die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit mit 50 km/h bei weniger als der Hälfte derjenigen Reisegeschwindigkeit liegt, die auch heute zwischen Stuttgart und Ulm erreicht wird. Heilbronn und Ulm sind fast exakt gleich groß (120.000 Einwohner); die industrielle Bedeutung von Heilbronn entspricht derjenigen von Ulm. Es dürfte ebenso viele reale und potentielle Pendlerinnen und Pendler zwischen Ulm und Stuttgart wie zwischen Heilbronn und der Landeshauptstadt geben. Es gibt in Sachen Einbindung in den Schienenverkehr also bereits heute eine erhebliche Ungleichbehandlung zwischen Ulm und Heilbronn, die mit einer Neubaustrecke nochmals vergrößert werden würde.
[12] Ministerpräsident Erwin Teufel führte am 19. Juni 1996 in seiner Regierungserklärung aus: „Stuttgart 21 ist für das ganze Land eine einmalige Chance. (...) Wir binden mit diesem Projekt unser Land (...) an das internationale Hochgeschwindigkeitsnetz an (...) Wir führen in ganz Baden-Württemberg Schritt für Schritt den Integralen Taktfahrplan ein.“ Pressemitteilung 135/96,Staatsministerium Baden-Württemberg, Redemanuskript, S. 32. Prof. Wolfgang Hesse hat auf Basis einer Ertüchtigung der bisherigen Verbindung Stuttgart – Ulm ein Modell für einen Integralen Taktfahrplan entwickelt. Siehe W. Hesse, „Mit Kopf- und Taktfahrplan statt schwäb´scher Tunnel-Achterbahn“, in: Lösch/Leidig/Stocker/Wolf, Stuttgart 21 – Wem gehört die Stadt, Köln 2010, S. 131ff.
[13] Vor Ort in Mannheim wird z.B. von Menschen, die bei diesem Thema engagiert sind, und von Initiativen gefordert: Ausbau des Mannheimer Hauptbahnhof (wie dies beim Abriss des alten und anlässlich der Errichtung des neuen Stationsgebäudes bereits einmal zugesagt wurde); Modernisierung des Gleisfeldes und der Bau neuer Bahnsteige. Allein diese Maßnahmen könnten deutliche Zeitgewinne im Fernverkehr erzielt werden. Notwendig ist die Realisierung der zweiten Ausbaustufe der S-Bahn-Rhein-Neckar (Verbesserung der S-Bahn-Verbindung zwischen Heidelberg und Bruchsal, Ausbau der Verbindung Heidelberg – Mannheim und Ausbau der S-Bahn nach Hessen). Der Knoten Friedrichsfeld muss mit Blick auf den Schienengüterverkehr ausgebaut werden. Erforderlich sind darüberhinaus eine kreuzungsfreie Einfädelung der Bahn von Weinheim in den Hbf Mannheim und ein viertes Gleis nach Heidelberg und Schifferstadt mit Aufhebung der niveaugleichen Anbindung bei der Umfahrung von Schifferstadt.
[14] So ist bei der Streckenführung im Raum Mannheim darauf zu achten, dass nicht die sogenannte Konsenstrasse, sondern die Trasse „Mannheim direkt“ verwirklicht wird. Die „Konsenstrasse“ kann als eine Schienenverkehrsverhinderungstrasse verstanden werden. Sie könnte auch die Hälfte einer Streckenführung mit vollständigem Bypass an Mannheim vorbei sein – was ein altes Ziel der Bahn aus der Mehdorn-Ära war.
[15] Hier wurde ein eher zu hoher Betrag angesetzt, zumal ein großer Teil der Kosten dieser Maßnahme durch Bundesgelder abgedeckt ist. Allerdings ist beim derzeitigen Planungsstand eine Bezifferung der Kosten für die teilweise erforderlichen alternativen Trassenführungen und Untertunnelungen und die zu Mannheim bereits in Anmerkung 14 skizzierten Ausbaumaßnahmen nur unzureichend möglich.
[16] Interessanterweise plädiert die Internationale Bodensee Tourismus GmbH, zu der sich mehrere Landkreise und Kantone zusammengeschlossen haben, dafür, „den Bodenseeraum zur Leuchtturmregion des Automobilsommers 2011“ zu machen. Es solle „die Mobilität zu Wasser, zu Lande und in der Luft“ gebündelt werden, wobei die Schiene dabei keine Rolle spielt. Nach: Südkurier vom 13. Januar 2011. Siehe auch die Seiten der Internationalen Bodensee Tourismus GmbH.
[17] Südkurier vom 15. Juni 2010 (Absage für das Projekt durch Gönner); Südkurier vom 10, Februar 2011 (Wertung durch Bodensee-S-Bahn-Initiative).
[18] Es ist ausgerechnet das PRIMON-Gutachten das diese Aussage macht und dokumentiert. Dieses 2006 vorgelegte und im Auftrag der rot-grünen Bundesregierung erstellte Gutachten der Beratergruppe Booz Allen Hamilton untersucht unterschiedliche Formen der Bahnprivatisierung (PRIMON = „Privatisierung mit und ohne Netz“). Das Gutachten behandelt ausdrücklich nicht die Möglichkeiten einer Bahn in öffentlichem Eigentum, gegebenenfalls einer optimierten öffentlichen Bahn oder eines „status quo plus“. Insofern taucht auch in dem 600 Seiten starken Gutachten die Schweiz mit ihrer (aus deutscher Sicht) weitgehend optimalen Bahn nur am Rande auf. Allerdings gibt es dort auf Seite 77 eine Tabelle zu den „durchschnittlichen jährlichen staatlichen Zuwendungen in EUR Cent je Einheitskilometer (Ptkm) der (europäischen) Eisenbahnen 1985-2003“. Danach müssen in der Schweiz je Leistungseinheit Ptkm (= Personenkilometer und Tonnenkilometer addiert) 2,4 Cent bezuschusst werden, in Deutschland sind es 7,0 Cent. Ergänzend notiert das PRIMON-Gutachten: „Zahlen für Deutschland ohne Mittel für das BEV (= Bundeseisenbahnvermögen; WW.) und Altschulden.“ Letzteres meint die umgerechnet mehr als 50 Milliarden Euro Verbindlichkeiten, die Bundesbahn und Reichsbahn Ende 1993 hatten und die mit Gründung der Deutschen Bahn AG im Januar 1994 komplett auf den Bund übertragen wurden. Die DB AG startete ohne Verbindlichkeiten, hat jedoch inzwischen wieder 15 Milliarden Euro Schulden.
[19] Dabei gibt es zwei große sogenannte Automobilcluster: die Region Stuttgart mit 130.000 Beschäftigten im Automobilbau und die Region Karlsruhe mit 40.000 Beschäftigten. Heilbronn und Ulm wären ergänzend anzuführen. Angaben nach: Zukunft der deutschen Automobilindustrie – Herausforderungen und Perspektiven für den Strukturwandel im Automobilsektor, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Dezember 2010. Es sollte allerdings berücksichtigt werden, dass auch in Baden-Württemberg deutlich mehr Menschen in anderen Bereichen arbeiten . Beispielsweise zählt der Maschinenbau im Südweststaat mit 275.000 Beschäftigten rund doppelt so viele Jobs wie der Fahrzeugbau. Auch gibt es deutlich mehr Lehrkräfte und Erzieherinnen im Land als Beschäftigte in der Autobranche. Damit relativiert sich das Argument, eine alternative Verkehrspolitik gefährde Arbeitsplätze im Fahrzeugbau zusätzlich.
[20] Von der Südwestdeutschen Medien-Holding werden die „Stuttgarter Zeitung“, die „Stuttgarter Nachrichten“, der „Schwarzwälder Bote“ und die „Süddeutsche Zeitung“ kontrolliert. Zusammen kommen diese Blätter auf eine tägliche Auflage von mehr als einer Million Exemplaren; sie erreichen 2,5 Millionen Leserinnen und Leser. Alle vier genannten Blätter argumentierten eineinhalb Jahrzehnte lang überwiegend pro S21 und zugunsten der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm.