4. Nulltarif? Ein fahrscheinloser ÖPNV ist nicht umsonst!
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- 7 August 2013
- von Dominik Fette
Unser Vorschlag für einen attraktiven und solidarischen öffentlichen Verkehr sieht vor, ihn zumindest im Nahbereich fahrscheinlos zu gestalten.[8] Dies würde das Recht auf Mobilität für alle weitgehend garantieren: Damit wäre der Weg zu Ämtern, Arztpraxen, Bildungseinrichtungen, die Pflege sozialer Beziehungen und um viele andere Dinge des Alltags zu bewältigen, nicht an den Geldbeutel gebunden. Auch würde die diskriminierende Bedürftigkeitsprüfung bei Sozialpässen und Sozialtickets entfallen.
Ein solcher fahrscheinloser öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV) wurde bereits in den 1970er Jahren in einigen Städten – wenn auch nur kurzfristig – getestet, unter anderem in Rom, in Bologna und in Atlanta. Es kam in der Regel zu einer deutlich stärkeren Nutzung.[9] Auch in neuerer Zeit haben einige Städte einen kostenlosen ÖPNV eingerichtet: Die brandenburgischen Kleinstädte Templin und Lübben sowie Hasselt in Belgien. Überall kam es zu einer deutlichen Steigerung der Fahrgastzahlen und einem Rückgang des Autoverkehrs. Allerdings wurden aufgrund dieser erhöhten Nachfrage Investitionen in neue Fahrzeuge notwendig, und für diese fehlte schlichtweg das Geld. Deswegen wurde der kostenlose ÖPNV in diesen Städten wieder abgeschafft.
In Hasselt war der geplante Bau einer weiteren vierspurigen Ringstraße der Anlass für die Einführung des fahrscheinlosen ÖPNV. Statt wie heute noch fast überall weiter das Ziel zu verfolgen, den Autoverkehr gut – sprich: flüssig und ohne Störungen – zu organisieren, setzte der Bürgermeister auf Verkehrsverlagerung. Zentral war ein kombiniertes Konzept aus unentgeltlichem ÖPNV und gleichzeitigen Maßnahmen, um die Stadt attraktiver und den Autoverkehr unattraktiver zu machen. Letzteres geschah vor allem durch hohe Parkgebühren (die den ÖPNV teilweise querfinanzierten), Geschwindigkeitsminderungen, den Abbau von Parkplätzen und die Verbannung von Autos aus den Einkaufsstraßen. Die Fahrgastzahlen im ÖPNV haben sich zwischen der Einführung 1996 und 2006 mehr als verzehnfacht bei gleichzeitig deutlichem Rückgang des motorisierten Individualverkehrs.[10] Durch den Verzicht auf neue Straßenprojekte war es dabei nicht einmal teuer für die Stadt: rund 600.000 Euro oder 23 Euro pro Familie und Jahr. Zudem kommen heute cirka 30 Prozent mehr Besucherinnen und Besucher in die Stadt, die den Umsatz im Einzelhandel steigen lassen. Für Hasselt hat sich die Einführung des unentgeltlichen ÖPNV mit den beschriebenen zusätzlichen Maßnahmen also gerechnet. Trotzdem müssen seit Mai 2013 Fahrgäste, die älter als 19 Jahre sind, wieder zahlen – allerdings nur 60 Cent pro Fahrt. Die Begründung auch hier: die Finanzierung der notwendigen Investitionen infolge des massiven Nachfragebooms.
In der estnischen Hauptstadt Tallinn wurde der Nahverkehr nach einer Volksabstimmung Anfang 2013 für die Einwohner der Stadt unentgeltlich. Bis Mitte April ist dort der Autoverkehr bereits um 15 Prozent zurückgegangen.[11] Problematisch ist das dortige Modell, weil es eben nicht für alle unentgeltlich ist und vor allem das Ziel verfolgt, die Anmeldung von Erstwohnsitzen zu erhöhen und damit die kommunalen Einnahmen auf Kosten der umliegenden Kommunen zu steigern.
Fazit der Modelle in Templin, Lübben und Hasselt: Mit einem fahrscheinlosen ÖPNV können die gewünschten sozialen und verkehrlich-ökologischen Ziele erreicht werden – aber er muss auf einer soliden finanziellen Grundlage stehen, die nicht durch den Erfolg des Modells kaputt gemacht wird.
In Tübingen gibt es seit langem die Initiative „TüBus umsonst!“ – doch auch mit Oberbürgermeister Palmer und Landesverkehrsminister Hermann (beide von den Grünen) wird zwar guter Wille gezeigt, aber kein Mut für eine Umsetzung. Immerhin soll stufenweise der Anteil der Umlagefinanzierung über Semester- und Jobtickets erhöht werden. Nulltarif für alle ist das noch lange nicht. Konkreter als in Tübingen ist das Konzept für Erfurt, an dem DIE LINKE vor Ort maßgeblich mitwirkt: Es enthält einen konkreten Vorschlag für eine Mischfinanzierung, listet die vielschichtigen positiven Effekte und notwendigen begleitenden Maßnahmen auf und enthält Vorschläge für Umsetzungsschritte.[12] Öffentlich geführte Diskussionen sollen die Idee in und mit der Erfurter Bevölkerung weiter verbreiten und entwickeln.
Auch ein Blick nach Frankreich ist aufschlussreich: Im südfranzösischen Aubagne und den umliegenden Gemeinden fahren die Busse seit Mai 2009 zum Nulltarif. Die Stadtregierung verfolgt damit sowohl soziale als auch ökologische Ziele. Das Recht auf Mobilität zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben soll damit umgesetzt werden. Auch hier sind die Fahrgastzahlen gestiegen und der Ausbau des Netzes wurde auf den Weg gebracht. Viele sind vom privaten Auto auf den ÖPNV umgestiegen. Neben den Einsparungen bei Ticketverkauf und Kontrollen sowie im Straßenbau wird der Nulltarif hier vor allem durch eine Nahverkehrsabgabe („versement transport“) finanziert. Die Nahverkehrsabgabe wird seit 1999 in alle französischen Kommunen von allen Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten auf die Lohnsumme erhoben und ist nach Einwohnerzahl gestaffelt. Inzwischen gibt es in 23 französischen Verkehrsverbünden jeglicher politischer Couleur den Nulltarif.
Ein ÖPNV zum Nulltarif zeigt also viele sozial und ökologisch positive Wirkungen, kann aber nicht umsonst sein. Wie kann nun eine soziale, nachhaltige und krisenfeste Finanzierung aussehen?
Zunächst sei angemerkt, dass die gesamte Infrastruktur für den motorisierten Individualverkehr mit riesigen Summen auch aus den kommunalen Haushalten finanziert wird.[13] Dies gilt als selbstverständlich und wird häufig hingenommen wie die negativen Auswirkungen (Unfälle, Lärm, Luftverschmutzung u.v.a.m.), den dieser Verkehr für die Lebensqualität in den Städten bedeutet. Formen der Querfinanzierung aus dem Individualverkehr wie Parkgebühren oder auch eine City-Maut sind daher nur ein kleiner Ausgleich für die öffentlichen und externen Kosten dieses Verkehrs. Sie wären grundsätzlich sinnvoll, wenn damit weitere Verlagerungsanreize geschaffen werden. Eine nennenswerte Finanzierung des ÖPNV auf diesem Wege ist jedoch problematisch, da die Einnahmen mit wachsendem Erfolg der Maßnahme – zunehmende Verlagerung und damit weniger Autoverkehr – sinken.
Als Quelle der Finanzierung sollten daher vor allem die Nutznießer des ÖPNV herangezogen werden: Das sind neben den tatsächlichen Nutzern auch die Unternehmen, die weniger Parkplätze für Kunden und Beschäftigte bereitstellen müssen. Weniger Staus und ein attraktiver ÖPNV bringen zudem alle Beschäftigten ausgeruhter zur Arbeit. Die Unternehmen müssen daher über eine Abgabe, ähnlich wie in Frankreich, oder über einen Aufschlag auf die Gewerbesteuer beteiligt werden. Ihr Beitrag muss im Sinne einer Erschließungsabgabe zumindest den Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur inklusive der notwendigen neuen Fahrzeuge finanzieren.[14]
Nutznießer sind auch die Einwohnerinnen und Einwohner der entsprechenden ÖPNV-Region (Stadt/Landkreis), die von Lärm und Abgasen entlastet werden und perspektivisch mehr öffentlichen Raum und Sicherheit zurück erhalten. Sie könnten über eine Nahverkehrsabgabe beteiligt werden. Beschränkt auf eine bestimmte Nutzergruppe gibt es eine solche Nahverkehrsabgabe bereits seit rund 20 Jahren: Mit dem Semesterticket können Studierende heute ohne Fahrschein im zum Teil sehr großen Tarifgebiet fahren. Seit Einführung der Semestertickets ist die Nutzung des eigenen Autos unter Studierenden stark zurückgegangen. Für Personen unter 18 Jahren, Menschen mit eingeschränkter Mobilität (nach Paragraf 148 SGB IX) und Bezieherinnen und Bezieher von Grundsicherung sollte die Abgabe entfallen. Zu prüfen wäre darüber hinaus eine einkommensabhängige Variante.
Eine weitere Finanzierungsquelle könnte die Einführung einer Erschließungsabgabe für den ÖPNV – gekoppelt an die Grundsteuer – sein. Diese würde sowohl die Unternehmen als auch (über die Miete) die Einwohnerinnen und Einwohnern belasten. Über die Größe des Grundstücks (kleine Wohnung/Mietshaus oder Villa) enthielte auch eine solche Berechnung ein soziale Komponente. Zudem könnte die Höhe von der Entfernung zur nächsten Haltestelle und der dortigen Taktfrequenz abhängen. Damit würde es für die Stadt beziehungsweise den Nahverkehrsbetrieb einen Anreiz zum Ausbau geben, da darüber auch die Einnahmen steigen.
Solche Finanzierungsmodelle müssen den Kommunen durch Ländergesetze ermöglicht werden. Die genaue Ausgestaltung sollte den Kommunen überlassen werden. Klar muss sein: Die Einführung einer solchen Finanzierung sollte vorrangig in den bisher schlecht versorgten Gebieten mit einem deutlichen Ausbau des ÖPNV einhergehen.
Die positiven Effekte der Verkehrsverlagerung durch einen Nulltarif müssen genutzt werden, um die Lebensqualität für alle zu verbessern: Leere Straßen sollten den Individualverkehr nicht attraktiver machen, sondern umgenutzt werden:
- Ein Ausbau und eine qualitative Verbesserung der Infrastruktur des Fuß- und Radverkehrs. Dazu zählen möglichst durchgehende Grüne Achsen, breite und barrierefreie Gehwege, Begegnungszonen und ‚Shared Space‘-Bereiche, sichere Kreuzungsmöglichkeiten von Straßen sowie Fahrradstreifen, -straßen und -schnellwege, die sich zu einem guten Fahrradwegenetz ergänzen.
- Ein Rückbau von Straßen und Parkflächen (wie oben für die Stadt Hasselt beschrieben), wodurch sich zusätzlich sehr viel Stadtraum für echte Lebensqualität gewinnen lässt – für Erholungsflächen oder für alternative Verkehrswege wie Radwege oder breitere Fußwege. Damit kann eine Stadt zusätzlich attraktiver gemacht werden, und eine Flächengerechtigkeit unter den Verkehrsmitteln kann zumindest ein Stück näher gekommen werden.
- Eine Entschleunigung des motorisierten Individualverkehrs durch eine flächendeckende Tempo-30-Regelung (Regelgeschwindigkeit in Städten), was gleichzeitig den Lärm und den Schadstoffausstoß vermindert und den Verkehr sicherer und damit für zu Fuß Gehende und Fahrradfahrende zusätzlich attraktiver macht.
Der unentgeltliche Nahverkehr sollte durch attraktive Mobilitätskarten ergänzt werden. Zu sozial gestaffelten Preisen erhältlich sollten solche Karten für den gesamten Verkehrsverbund, für das Bundesland beziehungsweise für ganz Deutschland erhältlich sein. Ein solches Modell müsste mit einer – ohnehin notwendigen – Vereinheitlichung des gesamten Tarifsystems im Land (siehe Kapitel 5) verbunden sein, da es sonst kaum umsetzbar wäre. Voraussetzung wäre eine entsprechende Abstimmung zwischen den einzelnen Verkehrsverbünden beziehungsweise deren Trägern.
Fazit: Der Nulltarif im ÖPNV wäre ein großer Schritt zur Verwirklichung des Rechts auf Mobilität sowie zur Erreichung ökologischer Ziele. Er muss von Angebotsverbesserungen des ÖPNV und hemmenden Maßnahmen für den motorisierten Individualverkehr begleitet werden und auf einer sozial ausgewogenen und belastbaren Finanzierung aufbauen. Etliche Details wären noch zu klären und für einige Finanzierungsmodelle müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Sinnvoll kann eine stufenweise Einführung sein: Im ersten Schritt werden die ÖPNV-Tarife inklusive der Zeitkarten halbiert. Die Finanzierung erfolgt beispielsweise über Gewerbe- und Grundsteuern und bringt auch die Mittel ein, um im zweiten Schritt den ÖPNV deutlich auszubauen. Erst im dritten Schritt würde der Nulltarif folgen mit Einführung einer Umlage oder aus anderen Quellen finanziert – einhergehend mit dem weiteren Ausbau des ÖPNV und der Zurückdrängung des motorisierten Individualverkehrs aus den Wohngebieten. Modellprojekte sind nötig, aber mittelfristig sollte deutschlandweit ein einheitliches Modell eingeführt werden.
[zur Übersichtsseite "Mobiltität für alle - Forderungen für einen attraktiven öffentlichen Verkehr"]
[8] In der Diskussion um ein solches Modell tauchen verschiedene Begriffe auf: Wichtig dabei ist, dass der ÖPNV nicht kostenlos ist (er verursacht natürlich Kosten) und – sofern er nicht aus dem normalen Steueraufkommen finanziert wird – auch mit Entgelten verbunden ist, also nicht entgeltfrei ist. Zentral ist, dass der ÖPNV von allen ohne Fahrschein oder anderen Berechtigungsnachweis (wie Zeitkarte oder Personalausweis zum Nachweis über den Wohnsitz) genutzt werden kann. Wir benutzen dafür hier die Begriffe fahrscheinlos, fahrscheinfrei und Nulltarif synonym.[zurück zum Text]
[9] Rolf Seydewitz & Markus Tyrell: Der beitragsfinanzierte Nulltarif - ein Ansatz zur Finanzierung und Attraktivierung des Öffentlichen Personennahverkehrs. Trier: Universität Trier, 1995. (pdf-Download) [zurück zum Text]
[10] Vgl. Stadt Hasselt: Mobility with an eye on the environment - Hasselt, an example for Europe, Hasselt 2000. Elisabeth Wehrmann: Stadt ohne Fahrschein. Die Zeit, 21.11.1997.[zurück zum Text]
[11] Der Standard: Wer in Tallinn lebt, fährt gratis mit Öffis, 5.4.2013. [zurück zum Text]
[12] Weitere Infos und das gesamte Konzept „Fahrscheinfreier ÖPNV für Erfurt“. [zurück zum Text]
[13] Was die Kommune für den Autoverkehr zahlt (Straßenunterhalt etc.), wird nur zu 14% bis 45% von diesem finanziert, in Düsseldorf stehen den jährlichen Ausgaben von 240 Mio. Euro sogar nur Einnahmen von 27 Mio. Euro (11%) gegenüber, der motorisierte Individualverkehr wird also hier mit 360 Euro pro Einwohner und Jahr subventioniert. Zahlen aus ICLEI-Studie „Wieviel zahlt unsere Kommune für den Autoverkehr?“, Freiburg 2001, zu finden auf www.increase-public-transport.de. [zurück zum Text]
[14] Dabei ist noch zu diskutieren, welche Variante sozial gerechter ist: Die Berechnung der Höhe über die Lohnsumme wie in Frankreich – womit es den Charakter eines Jobtickets hat – oder unabhängig von der Beschäftigungsquote über den Ertrag (Gewerbesteuer) oder die Flächennutzung (Grundsteuer). [zurück zum Text]